Kein Lebenszeichen
für dich gestorben?«
»Wäre das nicht das Beste?« Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
Ich wartete. »Vielleicht bin ich abgehauen, Will. Aber du
auch. Wir hatten die Wahl. Entweder war unser Bruder tot, oder er war ein brutaler Killer. So oder so, ja, für mich ist er gestorben.«
Ich hielt das Foto wieder hoch. »Wir wissen doch gar nicht, ob er schuldig ist.«
Melissa sah mich an, und plötzlich war sie wieder die große Schwester. »Ach komm, Will. Das weißt du doch besser.«
»Er hat uns beschützt. Als wir klein waren. Er hat auf uns aufgepasst. Er hat uns geliebt.«
»Und ich habe ihn auch geliebt. Aber ich habe ihn trotzdem realistisch gesehen. Gewalt hat ihn angezogen, Will. Das weißt du auch. Ja, er ist für uns eingetreten. Aber meinst du nicht, dass er das auch deshalb getan hat, weil er Spaß daran hatte? Du weißt, dass er in irgendeine dubiose Geschichte verwickelt war, als er gestorben ist.«
»Deswegen ist er noch lange kein Mörder.«
Wieder schloss Melissa die Augen. Ich sah, wie sie versuchte, all ihre Kraft zusammenzunehmen. »Verdammt noch mal, Will, dann erklär mir mal, was er in dieser Nacht getan hat.«
Unsere Blicke begegneten sich. Ich antwortete nicht. Mir war kalt.
»Vergiss den Mord, ja? Wieso hat Ken es mit Julie Miller getrieben?«
Ihre Worte trafen mich mitten ins Herz. Als ich schließlich wieder sprechen konnte, sagte ich mit dünner Stimme: »Wir hatten uns über ein Jahr vorher getrennt.«
»Willst du mir erzählen, dass du über eure Beziehung weggekommen warst?«
»Ich … sie war frei. Er war frei. Es gab keinen Grund …«
»Er hat dich betrogen, Will. Gesteh dir das endlich ein. Er hat mit der Frau geschlafen, die du geliebt hast. Was ist das für ein Bruder?«
»Wir hatten uns getrennt«, stammelte ich. »Ich hatte kein Anrecht auf sie.«
»Du hast sie geliebt.«
»Das hat damit nichts zu tun.«
Sie sah mich weiter an. »Und wer läuft jetzt weg?«
Ich taumelte zurück und sackte auf die Zementstufen. Ich schlug die Hände vors Gesicht. Ich versuchte, mich zusammenzureißen. Es dauerte eine Weile. »Trotzdem ist er dein Bruder.«
»Und was soll ich jetzt tun? Ihn suchen? Ihn der Polizei übergeben? Ihm helfen, sich versteckt zu halten? Oder was?«
Ich wusste keine Antwort.
Melissa stieg über mich hinweg und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. »Will?«
Ich sah sie an.
»Das ist nicht mehr mein Leben. Tut mir Leid.«
Dann sah ich sie, wie sie als Teenager mit hochtoupierten Haaren, nach Kaugummi riechend auf dem Bett vor sich hin plapperte. Ken und ich saßen auf dem Fußboden und rollten die Augen. Ich erinnerte mich an ihre Körpersprache.
Wenn Mel auf dem Bauch lag, die Füße in die Luft gestreckt, erzählte sie von Jungs, Partys und ähnlichem Unsinn. Wenn sie aber auf dem Rücken lag und zur Decke starrte, sprach sie über ihre Träume. Ich dachte an ihre Träume. Ich dachte daran, dass kein einziger in Erfüllung gegangen war.
»Ich liebe dich«, sagte ich.
Und als hätte sie meine Gedanken gelesen, fing Melissa an zu weinen.
Die erste Liebe vergisst man nie. Meine wurde ermordet.
Julie Miller und ich sind uns begegnet, als ihre Familie in
meinem ersten Jahr auf der Livingston High School in die Coddington Terrace zog. Zwei Jahre später wurden wir ein Paar. Wir waren zusammen auf dem Junior- und dem Senior-Abschlussball der High School. Wir wurden zum Paar des Jahrgangs gewählt. Man sah uns fast nie allein.
Das einzig Überraschende an unserer Trennung war ihre Vorhersehbarkeit. Wir gingen auf verschiedene Colleges, waren jedoch überzeugt, dass unsere Beziehung stark genug war, die Distanz zu überstehen. Daraus wurde nichts, obwohl sie länger hielt als die meisten anderen. Im dritten College-Jahr rief Julie mich an und sagte, sie wollte ungebunden sein und habe schon angefangen, mit einem Studenten in seinem letzten Jahr namens – das ist kein Witz – Buck auszugehen.
Ich hätte darüber hinwegkommen müssen. Ich war jung, und dies war wirklich kein besonders ungewöhnlicher Übergangsritus. Wahrscheinlich hätte es auch geklappt. Mit der Zeit. Ich hatte auch andere Verabredungen. Es dauerte eine Weile, aber schließlich akzeptierte ich die Realität. Die örtliche und zeitliche Distanz halfen mir dabei.
Doch dann war Julie umgekommen, und es kam mir vor, als hätte ein Teil meines Herzens sich nie aus der Umklammerung der Toten lösen können.
Bis Sheila kam.
Meinem Vater zeigte ich das Bild
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