Kein Lebenszeichen
durchsuchte die Schubladen. Sheila hatte ein Bankkonto und eine Kreditkarte – so viel wusste ich jedenfalls. Doch ich
fand keine Unterlagen – keine alten Auszüge, keine Quittungen, kein Sparbuch, nichts. Wahrscheinlich hatte sie sie einfach weggeworfen.
Der Bildschirmschoner, die klassischen wandernden Linienmuster, verschwand, als ich die Maus bewegte. Ich loggte mich ein, wechselte in Sheilas Internet-Account und klickte auf Alte Mail. Nichts. Keine einzige. Komisch. Sheila ging nicht oft ins Netz – eigentlich sogar sehr selten –, aber nicht eine einzige alte E-Mail?
Ich klickte Eigene Dateien. Auch leer. Ich sah mir die Lesezeichen an. Wieder nichts. Ich prüfte die History . Nada.
Ich lehnte mich zurück und starrte den Monitor an. Ein Gedanke setzte sich tief hinten im Gehirn fest. Ich überlegte, ob dieses Vorgehen Verrat wäre. Egal. Squares hatte Recht. Man musste erst zurückschauen, um festzustellen, in welche Richtung man vorangehen sollte. Und er hatte auch Recht, dass mir das, was ich finden würde, womöglich nicht gefiel.
Ich loggte mich im riesigen Online-Telefonbuch von switchboard.com ein. Unter »Name« gab ich Rogers ein. Als Bundesstaat Idaho. Als Stadt Mason. Ihren Geburtsort kannte ich aus dem Anmeldeformular, das sie als Freiwillige bei Covenant House hatte ausfüllen müssen.
Es gab nur einen Eintrag. Ich schrieb die Telefonnummer auf einen Zettel. Ja, ich wollte Sheilas Eltern anrufen. Wenn wir schon zurückschauten, konnten wir auch gleich ganz vorn anfangen.
Ehe ich zum Hörer greifen konnte, klingelte das Telefon. Ich nahm ab und meine Schwester Melissa sagte: »Was machst du?«
Ich überlegte, wie ich es sagen sollte, und entschied mich dann für: »Ich muss hier dringend was klären.«
»Will«, sagte sie, und jetzt sprach die ältere Schwester aus ihr, »wie trauern um unsere Mutter.«
Ich schloss die Augen.
»Dad hat nach dir gefragt. Du musst herkommen.«
Ich sah mich in der muffigen, fremden Wohnung um. Kein Grund, hier zu bleiben. Und dann dachte ich an das Bild, das ich noch in der Tasche hatte – das Bild meines Bruders auf dem Berg.
»Bin schon unterwegs«, sagte ich.
Melissa begrüßte mich an der Tür und fragte: »Wo ist Sheila?«
Ich murmelte etwas von anderweitigen Verpflichtungen und ging ins Haus.
Heute hatten wir tatsächlich einen echten Besucher, der nicht zur Familie gehörte – einen alten Freund meines Vaters namens Lou Farley. Ich glaube, die beiden hatten sich seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen. Sie erzählten sich mit viel zu großer Begeisterung Geschichten aus einer viel zu lange vergangenen Zeit. Etwas über eine alte Softball-Mannschaft, und ich erinnerte mich dunkel an meinen Vater in einem dicken, kastanienbraunen Polyester-Trikot mit einem Friendly’s- Eiscreme-Logo auf der Brust. Ich meinte das Kratzen der Stollen auf der Einfahrt zu hören, seine schwere Hand auf meiner Schulter zu spüren. Das war ewig her. Die beiden alten Männer lachten. Ich hatte meinen Vater seit Jahren nicht mehr lachen hören. Seine Augen waren feucht und blickten in weite Ferne. Meine Mutter hat ihn manchmal zu den Spielen begleitet. Ich sehe sie noch im ärmellosen Hemd mit braun gebrannten Armen auf der Tribüne sitzen.
Ich sah aus dem Fenster und hoffte immer noch, dass Sheila auftauchen und sich alles als ein einziges großes Missverständnis herausstellen würde. Zum Teil – zu einem großen Teil – verdrängte ich das Ganze einfach. Obwohl wir mit dem Tod meiner Mutter gerechnet hatten – Sunnys Krebserkrankung war,
wie oft in solchen Fällen, ein langsamer, stetiger Marsch in den Tod gewesen, bei dem am Ende alles ganz schnell ging –, hatte er mich doch irgendwie unvorbereitet erwischt. Ich war noch längst nicht bereit, das alles hinzunehmen.
Sheila.
Schon einmal hatte ich meine große Liebe verloren. Ich gebe zu, dass ich, was Herzensangelegenheiten angeht, eine altmodische Ader habe. Ich glaube an die große Liebe. Wir alle haben so eine erste Liebe. Als meine mich verließ, hinterließ sie ein Loch mitten in meinem Herzen. Lange dachte ich, davon würde ich mich nie wieder erholen. Aus diversen Gründen. So hatten wir zum Beispiel keinen richtigen Abschluss gefunden. Aber egal. Nachdem sie mich verlassen hatte – und genau das hatte sie getan –, war ich davon überzeugt gewesen, dass ich mich entweder mit einer anderen … Unbedeutenderen … zufrieden geben oder den Rest meines Lebens alleine bleiben
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