Kein Lebenszeichen
es jedoch nicht über die Lippen. Mel war die
Älteste von uns. Sie war drei Jahre älter als Ken, fünf Jahre älter als ich. Nach Julies Tod war sie abgehauen. Anders konnte man es nicht ausdrücken. Sie floh mit ihrem neuen Ehemann und ihrem Baby ans andere Ende des Landes. Ein wenig verstand ich sie schon, gelegentlich packte mich aber doch die Wut, weil ich fand, dass sie uns im Stich gelassen hatte.
Wieder dachte ich an Kens Bild in meiner Tasche und traf eine schnelle Entscheidung. »Ich will dir was zeigen.«
Ich glaubte zu sehen, wie Melissa sich verspannte, als erwartete sie einen Tiefschlag, doch das kann auch Einbildung gewesen sein. Sie trug eine perfekte Susi-Hausfrau-Frisur, vorstadtblond gesträhnt, schulterlang mit reichlich Festiger – wahrscheinlich genau so, wie Ralph es mochte. Mir kam die Frisur falsch vor, sie wollte einfach nicht zu ihr passen.
Wir gingen noch ein paar Schritte weiter, bis wir an die Tür zur Garage kamen. Ich drehte mich um. Mein Vater, Ralph und Lou Farley saßen immer noch in meinem Blickfeld.
Ich öffnete die Tür. Mel sah mich fragend an, folgte mir aber widerspruchslos. Wir traten auf den Zementboden in der kühlen Garage. Die Einrichtung war ganz im Frühamerikanische-Feuergefahr-Stil gehalten: rostige Farbdosen, schimmlige Pappkartons, Baseballschläger, alte Rattanmöbel, abgefahrene Reifen – alles wild im Raum verteilt, als hätte hier kürzlich eine Explosion stattgefunden. Der Boden war ölverschmiert, und es war so staubig, dass alles grau wirkte und man kaum Luft bekam. Noch immer hing ein Seil an der Decke. Mir fiel wieder ein, wie mein Vater damals etwas Platz frei geräumt und einen Tennisball an diesem Seil befestigt hatte, damit ich an meinem Baseball-Schwung arbeiten konnte. Unglaublich, dass es immer noch da hing.
Melissa sah mich an.
Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte.
»Sheila und ich haben gestern Moms Sachen durchgesehen«, sagte ich.
Ihre Augen wurden ein wenig schmaler. Ich wollte schon erklären, wie ich die Schubladen ausgeräumt und die eingeschweißten Geburtsanzeigen und das alte Programm angesehen hatte, in dem Mom die Titelrolle in der Little-Livingston-Aufführung von Auntie Mame gespielt hatte, und wie Sheila und ich in den alten Fotos versunken waren – erinnerst du dich noch an das mit König Hussein, Mel? –, aber das alles kam mir nicht über die Lippen.
Ohne ein weiteres Wort griff ich in die Tasche, zog das Foto heraus und zeigte es ihr.
Es ging ganz schnell. Melissa zuckte zurück, als hätte sie sich an dem Foto verbrannt. Sie atmete ein paar Mal tief durch und wandte sich ab. Ich trat einen Schritt auf sie zu, doch sie hob die Hand, um mich auf Abstand zu halten. Als sie wieder aufblickte, war ihr Gesicht absolut leer. Es zeigte keinerlei Überraschung. Keinen Schmerz, keine Freude. Nichts.
Wieder hielt ich das Bild hoch. Diesmal blinzelte sie nicht einmal.
»Das ist Ken«, sagte ich idiotischerweise.
»Das sehe ich, Will.«
»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«
»Wie soll ich denn deiner Meinung nach reagieren?«
»Er lebt. Mom hat’s gewusst. Sie hatte dieses Foto.«
Schweigen.
»Mel?«
»Er lebt«, sagte sie. »Ich hab’s verstanden.«
Ihre Reaktion – beziehungsweise ihre fehlende Reaktion – machte mich sprachlos.
»Sonst noch was?«, fragte Melissa.
»Was … sonst hast du nichts dazu zu sagen?«
»Was soll ich dazu noch sagen, Will?«
»Ach ja, richtig, ich hatte vergessen, du musst ja zurück nach Seattle.«
»Genau.«
Sie wich zurück.
Wieder packte mich die Wut. »Verrat mir eins, Mel. Hat es geholfen, wegzulaufen?«
»Ich bin nicht weggelaufen.«
»Blödsinn«, widersprach ich.
»Ralph hat da einen Job gekriegt.«
»Klar.«
»Wie kommst du eigentlich dazu, dir ein Urteil über mich zu erlauben?«
Ich musste daran denken, wie wir drei am Motel-Pool in der Nähe von Cape Cod stundenlang Marco Polo gespielt hatten. Ich dachte an die Zeit, als Tony Bonoza Gerüchte über Mel verbreitet hatte, und wie Ken rot geworden war, als sie ihm zu Ohren kamen, und er auf Bonoza losgegangen war, obwohl der zwei Jahre älter und zehn Kilo schwerer gewesen war.
»Ken lebt«, sagte ich.
Ihre Stimme klang flehentlich. »Und was soll ich damit jetzt anfangen?«
»Du tust, als wäre das ganz egal.«
»Ist es ja vielleicht auch.«
»Was soll das denn heißen?«
»Ken gehört nicht mehr zu unserem Leben.«
»Er ist dein Bruder.«
»Ken hat sich entschieden.«
»Und damit ist er
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