Kein Lebenszeichen
musste.
Und dann war ich Sheila begegnet.
Ich dachte an die durchdringenden Blicke aus Sheilas grünen Augen. Ich dachte an ihr seidiges rotes Haar. Ich dachte daran, wie die anfängliche körperliche Anziehung – und sie war so enorm und überwältigend gewesen – alle Adern und Fasern meines Körpers durchflutet hatte. Ich hatte nur noch an sie gedacht. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch gehabt.
Mein Herz hatte jedes Mal einen kleinen Hüpfer gemacht, wenn ich sie wiedersah. Im Bus hatte Squares mich öfter unverhofft gegen die Schulter geknufft, wenn ich überhaupt nicht damit gerechnet hatte, weil ich wieder einmal geistig abwesend war – in Sheila-Land, wie Squares in Anspielung auf mein etwas debiles Grinsen scherzhaft anmerkte. Ich schwebte wie im Rausch durchs Leben. Wir kuschelten und sahen uns alte Spielfilme auf Video an, streichelten und neckten uns und versuchten, den Kampf zwischen warmer Bequemlichkeit und heißer
Erregung so lange wie möglich auszudehnen, bis, na ja, wozu hat der Videorekorder schließlich eine Pause-Taste?
Wir hielten Händchen. Wir machten lange Spaziergänge. Wir saßen im Park und zogen flüsternd über vorbeigehende Passanten her. Auf Partys stand ich gerne auf der anderen Seite des Zimmers und sah sie aus der Ferne an, beobachtete, wie sie ging, sich bewegte, sich mit anderen unterhielt, und wenn unsere Blicke sich trafen, durchlief uns ein kurzer Schauer und wir konnten uns ein laszives Lächeln nicht verkneifen.
Sheila hatte mich einmal gebeten, einen albernen Fragebogen auszufüllen, den sie in einer Zeitschrift entdeckt hatte. Eine Frage lautete: Was ist die größte Schwäche Ihres/Ihrer Geliebten? Ich überlegte und schrieb: »Sie vergisst häufig ihren Regenschirm im Restaurant.« Sie freute sich und drängte mich trotzdem, mehr zu schreiben. Ich wies sie darauf hin, dass sie CDs von Boygroups und Abba hörte. Sie nickte feierlich und gelobte Besserung.
Wir hatten über alles geredet, außer über ihre Vergangenheit. Das kenne ich von der Arbeit her. Es hatte mich nicht sonderlich gestört. Im Nachhinein kam es mir etwas seltsam vor, aber damals hatte es unserer Beziehung vielleicht etwas – ich weiß nicht – etwas Geheimnisvolles verliehen. Und mehr noch – haben Sie bitte noch einmal Geduld mit mir –, es war auch so, als hätte es vor unserer gemeinsamen Zeit nichts gegeben. Keine Liebe, keine Partner, keine Vergangenheit – als wären wir erst an dem Tag, an dem wir uns kennen lernten, zur Welt gekommen.
Jaja, ich weiß.
Melissa saß neben meinem Vater. Ich sah beide im Profil. Sie sahen sich sehr ähnlich. Ich kam eher nach meiner Mutter. Ralph, Melissas Mann, kreiste um das Büfett. Er war ein typischer amerikanischer mittlerer Angestellter und trug kurzärmlige Hemden über Schläger-T-Shirts. Im Großen und Ganzen
war er ein anständiger Kerl alter Schule, mit kräftigem Händedruck, blank polierten Schuhen, glänzenden Haaren und begrenzter Intelligenz. Niemals hätte er seine Krawatte gelockert, was gar nicht unbedingt daran lag, dass er verklemmt wäre; er fühlte sich einfach nur dann wohl, wenn alles an seinem Platz war.
Mich verbindet nichts mit Ralph; ich muss allerdings zugeben, dass ich ihn auch nicht besonders gut kenne. Die beiden wohnen in Seattle und kommen fast nie zu Besuch. Trotzdem muss ich immer daran denken, wie Melissa in ihren wilden Jahren mit Jimmy McCarthy, dem schwarzen Schaf der Nachbarschaft, um die Häuser gezogen ist. Das Leuchten, das damals in ihren Augen gelegen hatte. Ihre Spontaneität und ihre unverschämte, oft ganz unangemessen komische Art. Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist; warum sie heute oft so verängstigt wirkt. Andere behaupten, sie wäre einfach reifer geworden. Ich glaube nicht, dass das alles ist. Ich glaube, da war noch was.
Melissa – wir haben sie damals nur Mel genannt – zwinkerte mir zu. Wir gingen ins Wohnzimmer. Ich griff in die Tasche und berührte das Foto von Ken.
»Ralph und ich fahren morgen früh wieder«, sagte sie.
»Kurzer Besuch«, sagte ich.
»Was soll das denn heißen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Wir haben Kinder. Ralph muss zur Arbeit.«
»Okay«, sagte ich. »Nett, dass ihr überhaupt reingeschaut habt.«
Ihre Augen wurden groß. »Das ist gemein.«
Sie hatte Recht. Ich sah mich um. Ralph saß bei Dad und Lou Farley, der ein besonders zerfallenes Sloppy-Joe-Sandwich aß. Krautsalat hing ihm in den Mundwinkeln. Ich wollte mich entschuldigen, bekam
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