Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
Vom Netzwerk:
aus dem Kühlschrank, öffnete die Glastür und trat auf das hinaus, was der Makler hochfliegend als »Balkon« bezeichnet hatte. Er war ungefähr so groß wie eine Babywiege. Eine Person, vielleicht sogar zwei, fanden darauf Platz, wenn sie ganz still standen. Natürlich passte kein Stuhl darauf, und da er sich im zweiten Stock befand, war auch die Aussicht nicht überragend. Aber ich mochte die frische Nachtluft und stand gerne hier.
    Nachts ist New York hell erleuchtet und schimmert in einem etwas unwirklichen Blauschwarz. Die Stadt soll ja angeblich niemals schlafen, aber angesichts dieser Straße musste man darauf schließen, dass sie zwischendurch doch immer mal ein längeres Nickerchen machte. Die Autos parkten Stoßstange an Stoßstange am Bordstein – sie schienen um die Positionen zu rangeln, in denen die Besitzer sie verlassen hatten. Nachtgeräusche pulsierten und summten. Ich hörte Musik. Ich hörte das Klappern aus der Pizzeria gegenüber. Ich hörte das gleichmäßige Rauschen vom West Side Highway. Manhattans – hier jetzt recht leises – Schlaflied.
    Mein Hirn war benebelt. Ich wusste nicht, was los war. Ich wusste nicht, was ich als Nächstes tun sollte. Mein Anruf bei Sheilas Mutter hatte mehr Fragen aufgeworfen, als er beantwortet hatte.
    Melissas Worte schmerzten noch immer, aber es war doch ein interessanter Punkt zur Sprache gekommen: Was wollte ich mit der Erkenntnis anfangen, dass Ken am Leben war?
    Ich wollte ihn natürlich wiedersehen.
    Ich wollte ihn sogar unbedingt sehen. Aber spielte das eine Rolle? Auch wenn ich weder Detektiv noch der Sache gewachsen
war. Wenn Ken gefunden werden wollte, würde er zu mir kommen. Wenn ich nach ihm suchte, konnte das nur in eine Katastrophe führen.
    Und womöglich hatte ich auch andere Prioritäten.
    Erst war mein Bruder abgehauen. Jetzt löste sich meine Freundin in Luft auf. Ich runzelte die Stirn. Nur gut, dass ich keinen Hund hatte.
    Ich sah ihn, als ich die Flasche zum Mund führte.
    Er stand an der etwa fünfzig Meter entfernten Straßenecke. Er trug einen Trenchcoat und etwas, das durchaus ein Filzhut sein konnte. Er hatte die Hände in den Taschen. Sein Gesicht leuchtete vor dem dunklen Hintergrund – es wirkte gleichförmig und zu rund. Ich konnte die Augen nicht erkennen, wusste aber, dass er mich ansah. Ich spürte seinen Blick auf mir. Er war fühlbar.
    Der Mann bewegte sich nicht.
    Es waren nicht viele Fußgänger unterwegs, aber die paar, die man auf der Straße sah, bewegten sich wenigstens. Das war typisch für New Yorker. Sie bewegten sich. Sie gingen. Sie gingen schnell und entschlossen. Selbst wenn sie an einer Ampel warteten oder ein Auto vorbeifahren ließen, wippten sie auf und ab. Sie waren immer auf dem Sprung. New Yorker bewegten sich. Sie fanden keine Ruhe.
    Dieser Mann jedoch stand da wie eine Salzsäule. Und er starrte mich an. Ich blinzelte mehrmals. Er war immer noch da. Ich wandte mich ab und sah dann wieder hin. Er stand immer noch reglos da. Und das war noch nicht alles.
    Er kam mir irgendwie bekannt vor.
    Ich wollte es nicht auf die Spitze treiben. Wir waren ziemlich weit voneinander entfernt, es war Nacht, und meine Augen sind nicht die besten, schon gar nicht nachts bei Straßenbeleuchtung. Aber meine Nackenhaare stellten sich auf, wie bei einem Hund, der Gefahr wittert.

    Ich beschloss, seinem Blick standzuhalten und zu sehen, wie er reagierte. Er rührte sich nicht. Ich weiß nicht, wie lange wir so verharrten. Ich spürte, wie meine Finger einschliefen. Meine Gliedmaßen wurden kalt, aber irgendwie sammelte ich tief im Innersten Kraft. Ich wandte den Blick nicht ab. Ebenso wenig wie das runde Gesicht.
    Das Telefon klingelte.
    Ich musste mich zwingen, mich abzuwenden. Meine Uhr zeigte fast elf. Ziemlich spät für einen Anruf. Ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, ging ich ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab.
    Squares sagte: »Müde?«
    »Nein.«
    »Wollen wir einen kleinen Ausflug machen?«
    Er war heute Nacht mit dem Bus unterwegs. »Hast du was rausgekriegt?«
    »Hol mich am Studio ab. In einer halben Stunde.«
    Er legte auf. Ich trat wieder auf den Balkon und sah auf die Straße. Der Mann war weg.

    Die Yogaschule hieß einfach Squares. Natürlich machte ich mich darüber lustig. Squares war zu einer Ein-Wort-Marke geworden, wie Cher oder Fabio. Die Schule oder das Studio, wie immer man es nennen will, befand sich in einem sechsstöckigen Gebäude am University Place in der Nähe des Union Square.

Weitere Kostenlose Bücher