Kein Lebenszeichen
nicht.
Gegen zehn Uhr abends kam ich zurück in meine Wohnung. Sie war immer noch leer, muffig und fremd. Keine Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Wenn das Leben ohne Sheila so aussah, wollte ich nichts damit zu tun haben.
Auf dem Schreibtisch lag noch der Zettel mit der Telefonnummer ihrer Eltern. Wie groß war die Zeitverschiebung nach
Idaho? Eine Stunde? Oder zwei? Ich wusste es nicht mehr. Aber dann musste es da entweder acht oder neun Uhr abends sein.
Noch nicht zu spät, um anzurufen.
Ich ließ mich in den Sessel fallen und starrte das Telefon an, als könnte es mir die Entscheidung abnehmen. Doch es weigerte sich. Ich nahm den Zettel. Als ich Sheila gesagt hatte, sie solle ihre Eltern anrufen, war sie leichenblass geworden. Das war gestern gewesen. Erst gestern. Ich überlegte, was ich jetzt tun sollte, und mein erster – mein allererster – Gedanke war, dass ich meine Mutter fragen könnte, dass sie schon wissen würde, was man in einer solchen Situation tat.
Eine neue Welle von Trauer brach über mich herein.
Doch dann wusste ich, dass ich etwas tun musste. Irgendetwas. Und Sheilas Eltern anzurufen war das Einzige, was mir einfiel.
Nach dem dritten Klingeln antwortete eine Frauenstimme: »Hallo?«
Ich räusperte mich. »Mrs Rogers?«
Es entstand eine kurze Pause. »Ja.«
»Mein Name ist Will Klein.«
Ich wartete, um festzustellen, ob ihr der Name irgendetwas sagte. Wenn, dann ließ sie sich nichts anmerken.
»Ich bin ein Freund Ihrer Tochter.«
»Welcher Tochter?«
»Sheila«, sagte ich.
»Verstehe«, sagte die Frau. »Ich habe gehört, dass sie in New York sein soll.«
»Ja«, sagte ich.
»Rufen Sie von dort an?«
»Ja.«
»Was kann ich für Sie tun, Mr Klein?«
Eine gute Frage. Ich wusste es selbst nicht recht, also fing ich
mit dem Naheliegendsten an. »Haben Sie eine Ahnung, wo sie ist?«
»Nein.«
»Sie haben nicht mit ihr gesprochen?«
Mit müder Stimme sagte sie: »Ich habe seit Jahren nicht mit Sheila gesprochen.«
Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder, suchte nach einem gangbaren Weg, blieb jedoch immer wieder an irgendwelchen Hindernissen hängen. »Wissen Sie, dass sie vermisst wird?«
»Die Behörden haben sich mit uns in Verbindung gesetzt, ja.«
Ich nahm den Hörer in die andere Hand und hob ihn ans andere Ohr. »Konnten Sie ihnen weiterhelfen?«
»Weiterhelfen?«
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wo sie sein könnte? Wohin sie vielleicht geflohen ist? Kennen Sie einen Freund oder Verwandten, der ihr eventuell helfen würde?«
»Mr Klein?«
»Ja.«
»Sheila ist schon lange aus meinem Leben verschwunden.«
»Warum?«
Ich platzte einfach damit heraus. Natürlich rechnete ich mit einer Zurückweisung, dachte, sie würde mir klar und deutlich sagen, dass mich das nichts anginge. Aber sie verfiel einfach wieder in ein langes Schweigen. Ich versuchte, zu warten, bis sie etwas sagte, doch darin war sie besser als ich.
»Es ist nur …«, hörte ich mich stammeln, »… sie ist so ein wunderbarer Mensch.«
»Sie sind nicht nur ein Freund, stimmt’s, Mr Klein?«
»Ja.«
»Die Behörden haben gesagt, dass Sheila mit einem Mann zusammengelebt hat. Ich nehme an, das sind Sie?«
»Wir sind seit etwa einem Jahr zusammen«, sagte ich.
»Hört sich an, als würden Sie sich Sorgen um sie machen.«
»Ja, so ist es.«
»Dann lieben Sie sie?«
»Sehr.«
»Aber Sheila hat Ihnen nie etwas über ihre Vergangenheit erzählt.«
Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte, obwohl sie natürlich Recht hatte. »Das verstehe ich jetzt nicht«, erwiderte ich.
»Ach, so ist das auch nicht«, entgegnete sie. »Ich versteh es ja selber nicht.«
Mein Nachbar suchte sich genau diesen Moment aus, um seine neue Stereoanlage auszuprobieren. Die Wände erbebten unter dem Bass. Da ich das schnurlose Telefon genommen hatte, konnte ich ins Nebenzimmer gehen.
»Ich möchte ihr helfen«, sagte ich.
»Darf ich Sie was fragen, Mr Klein?«
Bei ihrem Tonfall umklammerte ich den Hörer fester.
»Der FBI-Agent, der bei uns war«, fuhr sie fort, »hat gesagt, man weiß nichts über sie.«
»Über wen?«, fragte ich.
»Über Carly«, sagte Mrs Rogers. »Wo sie ist.«
Ich war verwirrt. »Wer ist Carly?«
Es entstand eine lange Pause. »Darf ich Ihnen einen Rat geben, Mr Klein?«
»Wer ist Carly?«, fragte ich noch einmal.
»Leben Sie Ihr Leben weiter. Vergessen Sie, dass Sie meiner Tochter je begegnet sind.«
Dann legte sie auf.
8
Ich holte mir eine Flasche Brooklyn-Lager
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