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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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niemals wieder jemand so anlächeln würde.
    Das ist zu viel, dachte ich. Hier zu sein. Die Ähnlichkeit zwischen Julie und Katy. Die Erinnerung. Das ist einfach zu viel.
    »Hast du Hunger?«, fragte ich Katy.
    »Ja, schon.«
    Sie hatte ein Auto, einen alten Honda Civic. Am Rückspiegel hing Modeschmuck aus Glas. Drinnen roch es nach Kaugummi
und Fruchtshampoo. Die Musik, die aus den Lautsprechern plärrte, kannte ich nicht, aber sie interessierte mich auch nicht.
    Schweigend fuhren wir zu einem klassischen New Jersey Diner an der Route 10. Hinter dem Tresen hingen signierte Fotos von Moderatoren der Lokalfernsehsender. In jeder Nische gab es eine kleine Jukebox. Die Speisekarte war unwesentlich länger als ein durchschnittlicher Tom-Clancy-Roman.
    Ein Mann mit kräftigem Bart und noch kräftigerem Deodorant fragte uns, wie viele Personen wir seien. Wir versicherten ihm, wir wären zu zweit. Katy fügte hinzu, dass wir gern im Raucherbereich sitzen würden. Ich wusste nicht, dass es in Restaurants überhaupt noch Raucherbereiche gab, aber die großen Diners sind in diesem Punkt offenbar sehr rückständig. Wir hatten kaum Platz genommen, als sie einen Aschenbecher zu sich heranzog, fast so, als wollte sie dahinter Schutz suchen.
    »Nachdem du bei uns am Haus warst«, sagte sie, »bin ich zum Friedhof gefahren.«
    Ein Kellner goss uns Eiswasser ein. Sie zog an ihrer Zigarette, lehnte sich zurück und blies den Qualm in die Luft. »Ich bin seit Jahren nicht mehr da gewesen. Aber als ich dich gesehen hab, dachte ich irgendwie, ich muss mal wieder hin.«
    Sie sah mich immer noch nicht an. Das fällt mir bei den Kids im Asyl auch immer wieder auf. Sie sehen einem nicht in die Augen. Mich stört das nicht. Es will nicht viel heißen. Ich sehe sie trotzdem an, habe aber festgestellt, dass der Augenkontakt überbewertet wird.
    »Ich kann mich kaum noch an Julie erinnern. Ich sehe Fotos und weiß gar nicht, ob meine Erinnerungen echt sind oder ob ich sie mir hinterher zurechtgelegt habe. Ich glaub, quatsch, ich weiß noch, wie wir im Great Adventure Freizeitpark mit den verrückten Teetassen gefahren sind, aber wenn ich mir dann das
Foto angucke, kann ich gar nicht genau sagen, ob ich mich wirklich daran erinnere oder nur an das Foto. Weißt du, was ich meine?«
    »Ja, ich glaub schon.«
    »Und als du dann vorbeigekommen bist, musste ich raus. Dad hat getobt. Mom hat geweint. Ich musste einfach raus.«
    »Ich wollte niemandem Kummer machen«, sagte ich.
    Sie tat meine Worte mit einer kurzen Geste ab. »Schon okay. Irgendwie tut’s ihnen auch ganz gut. Meistens vermeiden wir das Thema. Das ist manchmal ganz schön gruselig. Dann denk ich – oft würd ich gern losschreien Sie ist tot.« Katy runzelte die Stirn. »Soll ich dir mal was total Abgedrehtes erzählen?«
    Mit einem Nicken deutete ich an, dass sie fortfahren sollte.
    »Wir haben den Keller nicht umgebaut. Die alte Couch, der Fernseher und der abgewetzte Teppich sind immer noch da. Genau wie der alte Schrankkoffer, hinter dem ich mich mal versteckt hab. Ist alles noch da. Wird alles nicht mehr benutzt. Aber es ist noch da. Die Waschmaschine steht auch immer noch unten. Wir müssen durch das Zimmer, wenn wir waschen wollen. Verstehst du, was ich meine? So leben wir. Wir schleichen oben, na ja, wie auf einer dünnen Eisschicht herum und haben Angst, dass wir einbrechen und in diesen Keller fallen.«
    Sie schwieg und sog an der Zigarette, als hinge ihr Leben davon ab. Ich lehnte mich zurück. Ich habe mir, wie gesagt, nie groß Gedanken darüber gemacht, wie Katy Miller den Mord verarbeitet hat. Natürlich habe ich an ihre Eltern gedacht und mir ihre Verzweiflung vor Augen gehalten. Ich habe mich oft gefragt, warum sie nicht weggezogen sind, aber schließlich habe ich auch nie ganz verstanden, warum meine Eltern nicht weggezogen sind. Ich habe die Verbindung zwischen Trost und Schmerz, den man sich selbst zufügt, schon erwähnt, und den
damit verbundenen Wunsch, sich an etwas zu klammern, weil man das Leid dem Vergessen vorzieht. Dass sie weiter in diesem Haus wohnen blieben, war ein perfektes Beispiel.
    Aber ich hatte nie ernsthaft über Katy Miller nachgedacht, wie es für sie gewesen sein musste, in diesen Ruinen aufzuwachsen, in denen das geisterhafte Ebenbild der Schwester ihr nicht von der Seite wich. Ich betrachtete Katy, als sähe ich sie zum ersten Mal. Ihr Blick schoss noch immer wie ein verängstigter Vogel im Restaurant hin und her. Jetzt sah ich Tränen in

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