Kein Lebenszeichen
ehrenamtlich bei uns gearbeitet«, erwiderte ich.
»Mhm. Und als was genau hat sie sich Ihnen ehrenamtlich zur Verfügung gestellt, Will?«
Ein Schauer lief mir den Rücken hinab.
»Versuchen Sie immer noch, sich ein Bild von mir zu machen?« , fragte sie.
»Ich finde, Sie sollten gehen.«
»Vertragen Sie die Wahrheit nicht? Sie halten mich für ein Monster. Sie glauben, ich hätte mein Kind ohne Grund aufgegeben.«
»Darüber kann ich mir kein Urteil erlauben.«
»Sheila war ein schreckliches Kind. Sie hat gelogen. Sie hat geklaut …«
»Ich glaube, ich versteh es langsam«, sagte ich.
»Was verstehen Sie?«
»Warum sie weggelaufen ist.«
Sie blinzelte und starrte mich dann wütend an. »Sie haben sie nicht gekannt. Sie kennen sie ja immer noch nicht.«
»Haben Sie nichts von dem mitbekommen, was da unten gesagt wurde?«
»Doch, das habe ich.« Sie sprach leiser. »Aber dieser Sheila bin ich nie begegnet. Das hat sie mir nicht gegönnt. Die Sheila, die ich kannte …«
»Bei allem Respekt, ich habe wirklich keine Lust, zuzuhören, wie Sie sie weiter schlecht machen.«
Edna Rogers schwieg. Sie schloss die Augen und setzte sich auf ein Bett. Es war sehr still im Zimmer. »Deshalb bin ich auch nicht gekommen.«
»Warum dann?«
»Erstens wollte ich etwas Gutes hören.«
»Das haben Sie«, sagte ich.
Sie nickte. »Ja, das habe ich.«
»Was wollten Sie noch?«
Edna Rogers stand auf. Sie trat zu mir, und ich widerstand dem Wunsch, vor ihr zurückzuweichen. Sie sah mir direkt in die Augen. »Ich bin wegen Carly gekommen.«
Ich wartete. Als sie nicht weitersprach, sagte ich: »Den Namen haben Sie am Telefon schon erwähnt.«
»Ja.«
»Ich habe keine Carly gekannt und kenne auch noch immer keine.«
Wieder verzogen sich ihre Lippen zu jenem grausamen Lächeln. »Sie würden mich doch nicht belügen, oder, Will?«
Wieder erschauderte ich. »Nein.«
»Sheila hat den Namen Carly nie erwähnt?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Wer ist das?«
»Carly ist Sheilas Tochter.«
Es verschlug mir die Sprache. Edna Rogers beobachtete meine Reaktion. Es schien ihr Spaß zu machen.
»Ihre wunderbare ehrenamtliche Mitarbeiterin hat offenbar nie erwähnt, dass sie eine Tochter hat.«
Ich sagte nichts.
»Carly ist jetzt zwölf Jahre alt. Wer der Vater ist, weiß ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass Sheila das wusste.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich.
Sie griff in ihre Handtasche, zog ein Foto heraus und gab es mir. Es war so ein Krankenhausfoto eines Neugeborenen. Ein in eine Decke gewickeltes Baby blinzelte mit Augen, die noch
nichts sahen. Ich drehte es um. Dort stand handschriftlich »Carly« und das Geburtsdatum.
In meinem Kopf drehte sich alles.
»Sheila hat mich zum letzten Mal an Carlys neuntem Geburtstag angerufen«, sagte sie. »Da habe ich selbst mit ihr gesprochen. Mit Carly, meine ich.«
»Und wo ist sie jetzt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Edna Rogers. »Darum bin ich hier, Will. Ich suche meine Enkelin.«
25
Als ich wieder zu Hause angekommen war, saß Katy Miller vor meiner Wohnungstür. Zwischen ihren Beinen stand ein Rucksack.
Sie rappelte sich auf. »Ich hab angerufen, aber …«
Ich nickte.
»Meine Eltern«, fing Katy an. »Ich halt es in dem Haus keinen Tag länger aus. Ich dachte, ich kann vielleicht bei dir auf dem Sofa pennen.«
»Das passt jetzt nicht so richtig«, sagte ich.
»Oh.«
Ich steckte den Schlüssel ins Schloss.
»Weißt du, ich hab versucht, mir das Ganze zusammenzureimen, ja? Wie wir es geplant hatten. Wer für den Mord an Julie in Frage kommt. Und dann hab ich überlegt, was du eigentlich über Julie weißt, nachdem ihr euch getrennt hattet.«
Wir gingen in die Wohnung. »Ich glaub nicht, dass das jetzt ein guter Zeitpunkt ist.«
Dann sah sie mein Gesicht. »Wieso? Was ist passiert?«
»Jemand, der mir sehr nahe stand, ist gestorben.«
»Meinst du deine Mutter?«
Ich schüttelte den Kopf. »Jemand anders. Sie wurde ermordet.«
Katy schnappte nach Luft und ließ ihren Rucksack fallen. »Wie nahe stand sie dir denn?«
»Sehr.«
»Eine Freundin?«
»Ja.«
»Hast du sie geliebt?«
»Sehr.«
Sie sah mich an.
»Was ist?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht, Will. Sieht fast so aus, als würde jemand die Frauen umbringen, die du liebst.«
Das hatte ich schon einmal gedacht, dann jedoch als Unsinn abgetan. Wenn man es aussprach, klang es sogar noch lächerlicher. »Julie und ich hatten uns über ein Jahr vor dem Mord
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