Kein Lebenszeichen
Nachttischlampe, Sonnenbrillen, Salz- und Pfefferstreuer und Gott weiß was noch alles. Dann fiel mir auf, dass es sich bei dem Stück, das wir hörten, nicht um den Original-Klassiker von Elton John und Bernie Taupin handelte, sondern die neuere Lady-Di-Hymne, deren Text den Abschied von der »English Rose« zelebriert. Irgendwo hatte ich gelesen, dass diese Fassung die bestverkaufte Single aller Zeiten sein soll. Das war schon sehr aufschlussreich, wobei ich mir nicht sicher war, ob ich wirklich wissen wollte, worüber es Aufschluss gab.
Rose Baker sagte: »Erinnern Sie sich noch daran, wie Lady Di gestorben ist?«
Ich sah Katy an. Sie sah mich an. Wir nickten.
»Wissen Sie noch, wie die Welt um sie getrauert hat?«
Sie sah uns weiter an. Wieder nickten wir.
»Für die meisten Menschen war der Schmerz und die Trauer nur eine Marotte. Sie haben ihr ein paar Tage nachgeweint, vielleicht auch ein oder zwei Wochen. Und dann …«, sie schnippte mit den Fingern wie ein Zauberer, und ihre Augen wurden noch größer, »… war alles vorbei. Als hätte es sie nie gegeben.«
Sie sah uns an und wartete auf beifälliges Glucksen. Ich versuchte, keine Grimasse zu ziehen.
»Aber für manche war Diana, die Prinzessin von Wales, ein wahrer Engel. Sie war zu gut für diese Welt. Wir werden ihr Licht in unseren Herzen immer weitertragen.«
Sie tupfte sich das Auge ab. Mir ging eine boshafte Erwiderung durch den Kopf, doch ich unterdrückte sie.
»Bitte«, sagte sie. »Setzen Sie sich. Möchten Sie etwas Tee?«
Wir verneinten höflich.
»Vielleicht ein Plätzchen?«
Sie brachte einen Teller mit Keksen in der Form von – genau – Dianas Profil. Die Krone war aus Zuckerguss. Wir entschuldigten uns, da wir beide nicht in der Stimmung waren, an der toten Lady Di herumzuknabbern. Ich entschloss mich, direkt zur Sache zu kommen.
»Mrs Baker«, sagte ich, »erinnern Sie sich noch an Katys Schwester Julie?«
»Ja, selbstverständlich.« Sie stellte den Teller mit den Plätzchen ab. »Ich erinnere mich an alle Mädchen. Mein Mann Frank – er hat hier Englisch unterrichtet – ist 1969 gestorben. Wir hatten keine Kinder. Ich hatte auch sonst keine lebenden Verwandten mehr. Dieses Studentinnenhaus und die Mädchen darin waren mein Leben.«
»Verstehe«, sagte ich.
»Und Julie, also, nachts, wenn ich im Bett liege und in die Dunkelheit starre, sehe ich ihr Gesicht häufiger als das der meisten anderen. Nicht nur, weil sie ein ganz besonderes Mädchen war – das war sie auch –, aber natürlich vor allem wegen dem, was später mit ihr passiert ist.«
»Meinen Sie den Mord?« Das war eine ziemlich dumme Frage, aber schließlich machte ich das zum ersten Mal. Ich wollte einfach, dass sie weitersprach.
»Ja.« Rose Baker ergriff Katys Hand. »Was für eine Tragödie. Es tut mir furchtbar Leid für Sie.«
Katy sagte: »Vielen Dank.«
Auch wenn es etwas herzlos sein mochte, konnte ich mir den Gedanken doch nicht verkneifen: eine Tragödie, ja, aber wo hing Julies Bild – oder das von Rose Bakers Mann oder von ihrer Familie? – in diesem verwirrenden Potpourri königlicher Trauer?
»Mrs Baker, erinnern Sie sich vielleicht auch noch an ein anderes Mitglied der Studentinnenverbindung namens Sheila Rogers?« , fragte ich.
Ihr Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an und sie antwortete knapp. »Ja«, sagte sie. »Ja, ich erinnere mich an sie.«
An ihrer Reaktion war klar zu sehen, dass sie nichts von ihrer Ermordung gehört hatte. Ich entschloss mich, ihr noch nichts davon zu sagen. Anscheinend mochte sie Sheila nicht, und ich wollte wissen, warum. Wir brauchten ehrliche Antworten. Wenn ich ihr jetzt erzählte, dass Sheila tot war, würde sie die Tatsachen vermutlich beschönigen. Bevor ich fortfahren konnte, hob Mrs Baker die Hand. »Darf ich Sie etwas fragen?«
»Selbstverständlich.«
»Warum wollen Sie das jetzt alles wissen?« Sie sah Katy an. »Das ist doch alles schon so lange her.«
Katy antwortete. »Ich will die Wahrheit rausfinden.«
»Die Wahrheit über was?«
»Meine Schwester hat sich in der Zeit, als sie hier war, sehr verändert.«
Rose Baker schloss die Augen. »Das ist nichts für Ihre Ohren, mein Kind.«
»Doch«, sagte Katy verzweifelt. »Bitte, wir müssen es wissen.«
Rose Baker hielt die Augen noch ein paar Sekunden geschlossen. Mit einem kurzen Nicken öffnete sie sie. Sie faltete die Hände und legte sie in den Schoß. »Wie alt sind Sie?«
»Achtzehn.«
»Also ungefähr so alt,
Weitere Kostenlose Bücher