Kein Lord wie jeder andere (German Edition)
legte die Zeitung beiseite und nahm ihren Beutel mit Zeichenutensilien. »Nichts von Bedeutung. Wollen wir?«
Katie schnappte sich Umhänge und Sonnenschirme und murmelte düster: »Es ist ein ziemlicher Marsch den Berg hinauf, nur um Sie auf eine weiße Leinwand starren zu sehen.«
»Vielleicht bin ich heute ja inspirierter.«
Beth und Katie verließen das schmale Haus, das Beth vorübergehend bewohnte, und stiegen in den einfachen Einspänner, den der französische Lakai geholt hatte. Natürlich hätte sie sich auch eine geschlossene Kutsche mit Kutscher leisten können, doch Beth war es gewohnt, sparsam zu sein. Sie sah keine Notwendigkeit, ein kostspieliges Fuhrwerk zu unterhalten.
Heute war sie beim Kutschieren nicht recht bei der Sache, und sehr zum Leidwesen von Pferd und Gesellschafterin zerrte sie immer wieder nervös an den Zügeln.
Die Zeitung, die Beth zuvor gelesen hatte, war der Londoner Telegraph . Zwar bezog Beth auch mehrere Pariser Zeitungen, denn von ihrem Vater hatte sie fließend Französisch sprechen und lesen gelernt, doch sie wusste auch gerne, was zu Hause in London vor sich ging.
Was sie so sehr aufgeregt hatte, war ein Artikel, in dem es hieß, zwischen den Lords Ian und Cameron MacKenzie sei es in einem Restaurant wegen einer Frau fast zu einer Schlägerei gekommen. Bei der Frau handelte es sich um die berühmte Sopranistin, die Beth vor einer Woche in Covent Garden noch so bezaubert hatte. Es gab mehrere Zeugen, die nun voller Schadenfreude der Zeitung alles haarklein zugetragen hatten.
Beth zog ungeduldig an den Zügeln, und das Pferd warf den Kopf zurück. Wenngleich sie es keineswegs bereute, Lord Ians Antrag abgelehnt zu haben, ärgerte es sie dennoch, dass er so kurz darauf schon mit seinem Bruder um die Gunst der vollbusigen Sängerin buhlte. Ein wenig leiden hätte er ihretwegen schon können.
Sie versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, und konzentrierte sich stattdessen auf die breiten Pariser Boulevards, die ins dichte Straßengewirr von Montmartre mündeten. Oben auf dem Hügel fand Beth einen Jungen, der auf Pferd und Wagen aufpasste, und dann machte sie sich auf den Weg zu einer kleinen Grünfläche, die sie lieb gewonnen hatte, die murrende Katie im Schlepptau.
Mit seinen engen, verschlungenen Gässchen, den üppig mit Blumen bestückten Fensterkästen und den bewaldeten Hängen hatte sich Montmartre sein dörfliches Flair bewahrt. Die breiten Pariser Alleen und öffentlichen Parks lagen in weiter Ferne, und Beth verstand nur zu gut, warum es Künstler und Modelle nach Montmartre zog. Und abgesehen vom Charme dieses Viertels waren zudem die Mieten hier sehr günstig.
Beth stellte ihre Staffelei am üblichen Ort auf und setzte sich mit gespitztem Bleistift dahinter. Katie setzte sich neben sie auf eine Bank und ließ den Blick lustlos über die Künstler und solche schweifen, die es gerne sein wollten.
Schon den dritten Tag saß Beth jetzt vor dem leeren Bogen Papier und schaute auf Paris hinab. Nachdem Stifte, Papier und Staffelei besorgt waren, hatte sich Beths Begeisterung schnell gelegt, denn ihr wurde klar, dass sie überhaupt nicht zeichnen konnte. Dennoch kam sie jeden Nachmittag zu diesem Hügel und baute ihre Sachen auf. Auf diese Weise bekamen sie und Katie wenigstens genügend Bewegung.
»Meinen Sie, die sitzt einem Künstler Modell?«, fragte Katie.
Mit dem Kinn deutete sie auf eine schöne Rothaarige, die mit mehreren anderen Damen durch die Straße flanierte. Sie trug ein helles Kleid mit zartem Überrock, unter dem ein mit Bändern verzierter Unterrock hervorlugte. Ihr kleiner Hut war mit Blumen und Spitze geschmackvoll aufgeputzt, und sie trug ihn keck in die Stirn gedrückt. Ihr Sonnenschirm war farblich auf das Kleid abgestimmt, und sie hielt ihn mit großer Anmut.
Alle Köpfe wandten sich nach ihr um, denn von ihr ging etwas Zauberhaftes aus. Dabei scheint sie es nicht einmal darauf anzulegen, dachte Beth mit einem Anflug von Neid. Alles an dieser Frau war faszinierend, sie war eine Augenweide.
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Beth nach eingehender Betrachtung. »Jedenfalls ist sie wunderschön.«
»Ich wünschte, ich wäre auch schön genug, um Modell zu sitzen«, seufzte Katie. »Nicht, dass ich es tun würde. Meine gute, alte Mutter würde mich grün und blau schlagen. Furchtbar sündhafte Frauen müssen das sein, die sich nackt ausziehen.«
»Schon möglich.« Die Rothaarige und ihre Freundinnen verschwanden hinter einer
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