Kein Lord wie jeder andere (German Edition)
»Ausgezeichnet!«
Ian zog die Hände zurück, schaute kurz zu Beth und legte sie wieder auf die Tasten aus Elfenbein, als spendeten sie ihm Trost.
»Das habe ich mit elf gelernt«, sagte er.
»Ein Wunderkind also. In dem Alter wusste ich noch nicht einmal, wie ein Klavier aussieht.«
Ian verhielt sich nicht wie ein Gentleman: Weder war er bei Beths Eintreten aufgestanden, noch hatte er sie mit einem Handkuss begrüßt oder dafür Sorge getragen, dass sie Platz nahm. Er hätte sich nach ihrer Familie erkundigen, sich zu ihr setzen und über Belanglosigkeiten wie das Wetter plaudern müssen, bis ein eilfertiger Diener den Tee serviert hätte. Doch Ian blieb am Klavier sitzen und runzelte die Stirn, als versuche er, sich an etwas zu erinnern.
Beth lehnte sich ans Klavier und lächelte ihn an. »Bestimmt waren Ihre Lehrer sehr beeindruckt.«
»Nein. Ich habe dafür Prügel bezogen.«
Das Lächeln erstarb ihr auf den Lippen. »Sie wurden dafür bestraft, ein Musikstück meisterlich zu beherrschen? Eine seltsame Reaktion, finden Sie nicht?«
»Mein Vater hat mich einen Lügner genannt, weil ich behauptet habe, das Stück erst einmal zuvor gehört zu haben. Dann habe ich ihm gestanden, dass ich nicht wüsste, wie man lügt. Woraufhin er sagte: ›Besser für einen Lügner gehalten zu werden als für einen Kranken. Was du getan hast, ist krank, und ich werde dich lehren, es nie wieder zu tun.‹«
Ians Stimme bekam einen barschen Klang, als er die Worte des Mannes nachahmte.
Ihr schnürte sich die Kehle zu. »Das ist ja furchtbar.«
»Ich bin oft geschlagen worden. Ich war respektlos und schwierig.«
Beth sah Ian als kleinen Jungen vor sich, wie seine ängstlichen goldenen Augen den Blick des brüllenden Vaters um jeden Preis mieden, um sich dann aus Angst vor dem Rohrstock und aus Schmerz zu schließen.
Ian begann, ein anderes Stück zu spielen, es klang getragen und ernst. Er hielt den Kopf leicht gesenkt, sein ausdrucksstarkes Gesicht zeigte absolute Konzentration, und er spielte mit dem gesamten Körper.
Beth erkannte das Stück. Es war ein Klavierkonzert von Mozart, das der Lehrer, den Mrs Barrington für sie engagiert hatte, sehr gemocht hatte. Beth selbst war keine überragende Klavierspielerin, ihre Hände waren von der vielen Arbeit viel zu ungelenk. Worüber der Lehrer sich zwar hochmütig mokierte, sie aber keine Schläge hatte einstecken müssen.
Ians Hände entlockten dem Instrument klare, volle Töne, die den Salon erfüllten. Mochte er auch behaupten, die Seele der Musik nicht zu verstehen, so rief die Musik bei Beth jetzt die Erinnerung an die schwere Zeit nach dem Tod ihrer Mutter wach.
Sie dachte an den Tag im Spital zurück, an dem sie, die Arme um die Knie geschlungen und in eine Ecke gekauert, mitangesehen hatte, wie ihre tuberkulosekranke Mutter die letzten Züge tat. Ihre wunderschöne Mutter, die so zerbrechlich und so ängstlich gewesen war und sich immer bei Beth Kraft geholt hatte, und die jetzt aus einem Leben schied, das ihr nur Angst und Gram beschert hatte.
Nach der Bestattung ihrer Mutter in einem Armengrab hatte das Spital Beth vor die Tür gesetzt. Auch wenn sie nicht ins Armenhaus der Gemeinde zurückgewollt hatte, trugen ihre Füße sie wie von selbst dorthin. Denn sie kannte keinen Ort, an den sie sonst hätte gehen können.
Da sie sich gepflegt auszudrücken verstand und über gute Umgangsformen verfügte, hatte das Armenhaus ihr immerhin eine Stellung angeboten. Sie unterrichtete die jüngeren Kinder und fand Trost darin, ihnen beistehen zu können. Doch allzu oft flohen ihre Zöglinge wieder aus dem Armenhaus, um in ihr altes, lukrativeres Leben als Kriminelle zurückzukehren.
Vor allem Menschen wie Beth, die zwischen allen Stühlen saßen, hatten es schwer. Einerseits wollte sie ihren Körper nicht an Widerlinge verkaufen, denen es nach fünfzehnjährigen Mädchen gelüstete, andererseits hatte sie auch keine Chance auf eine respektable Stellung als Kindermädchen oder Gouvernante. Bessergestellte Frauen wollten ihren kostbaren Nachwuchs nicht von einer betreut wissen, die aus dem Bethnal-Green-Armenhaus kam.
Schließlich war es ihr gelungen, eine der Frauen aus ihrer Gemeinde zu überreden, ihr eine Schreibmaschine zu besorgen. Auch wenn bei der Maschine aus dritter Hand zwei Tasten klemmten, hatte Beth unermüdlich darauf geübt.
Ihr Plan war zu versuchen, Arbeit als Schreibkraft zu finden, wenn sie ein wenig älter wäre. Vielleicht würde man über ihre
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