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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
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setzte Havens seinen Blinker.
    »Er nimmt einen Seiteneingang«, sagte ich. »Ich glaube, da befindet sich ein kleiner Parkplatz.«
    »Was sollen wir jetzt tun?«
    »Rechts abbiegen.« Wir erreichten ein Wohngebiet mit einem Gewirr kleiner Straßen und parkten den Wagen.
    »Komm«, sagte ich, »sonst verlieren wir ihn.«
    Wir liefen zurück, überquerten die Caldwell Avenue und blieben am Eingang zum Naturschutzgebiet stehen. Ich hörte, dass eine Autotür zugeschlagen wurde, und wartete noch einen Moment. Dann gab ich Sarah ein Zeichen, und wir marschierten los. Havens hatte sich auf den Weg gemacht und ging einen Pfad hinunter. Wir folgten ihm.

VIER
    Das Sonnenlicht fiel in blassen Streifen durch das Laub der Wipfel auf den Trampelpfad. Sarah lief mit federndem Schritt, ich trottete neben ihr her.
    »Was sollen wir sagen, wenn er uns sieht?«, fragte sie.
    »Keine Ahnung. Das Ganze war deine Idee.«
    Etwa hundert Meter vor uns verschwand Havens um eine Wegbiegung.
    »Glaubst du, er führt uns zum Tatort?«, sagte Sarah.
    »Ist anzunehmen. Wir sollten den Pfad lieber verlassen.« Ich entdeckte eine Lücke zwischen den Bäumen und trat in ihren Schatten. In der Nacht zuvor hatte es geregnet, der Boden war noch feucht. In der Luft hing der Geruch von satter Erde, faulendem Holz und etwas Metallischem, das vom Fluss herkam.
    »Warst du schon mal hier?« Sarah war so dicht hinter mir, dass ich die feste Rundung ihrer Brüste im Rücken spürte.
    »Ja.«
    »Wozu?«
    »Im Wald gibt es gute Laufstrecken. Manchmal komme ich auch mit dem Fahrrad her. Und jetzt bleib dicht hinter mir, und sei still.« Sobald meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, begann ich mich schneller durch die Baumreihen zu bewegen. Sarah hatte Schwierigkeiten, mit mir Schritt zu halten. Nach ungefähr hundert Metern blieb ich stehen und wartete.
    »Mann«, sagte Sarah, als sie schließlich zu mir aufholte. »Ich glaube, ich bin in jeden Dornbusch gerannt.«
    Ich nickte zu dem schwachen Licht zu unserer Linken hinüber. »Wenn ich die Karte richtig im Kopf habe, liegt der Pfad da drüben, nahe dem Fluss.«
    »Und der Tatort?«
    »Ich bin sicher, Havens führt uns zum Grab.«
    Das Wort »Grab« schien die Luft zwischen uns aufzusaugen. Sarah wich die Farbe aus dem Gesicht. Sie war wieder Kind, ein Kind, das in ein schwarzes Loch der Angst gefallen war, aus dem es zu mir hochsah. Ich trat auf sie zu, und für einen flüchtigen Moment war ich Teil ihrer Welt.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Er wird uns nicht bemerken. Und wenn doch, ist es auch egal.«
    »Geh du voran.«
    Wir setzten unseren Weg fort. Nach fünfzig Metern blieb ich stehen. Vor uns war ein scharrendes Geräusch. Sarah schien es nicht zu hören. Ich zeigte nach vorn.
    »Zwischen den Bäumen ist jemand. Ich werde das mal checken. Du gehst zurück zum Pfad und folgst ihm, bis du mich siehst.«
    Sarah schien der Vorschlag zu gefallen, besonders die Sache mit dem Pfad. Als sie verschwunden war, setzte ich mich an einen Baum und versuchte, so ruhig wie möglich zu atmen. Das Scharren war noch immer da, leise und beständig. Vermutlich jemand, der in der Erde grub. Ich ließ mich weich werden. Schmelzen. Als ich gelöst und geschmeidig war, kam ich langsam hoch. Vor mir lag eine Senke. Ich bahnte mir einen Weg durch das Unterholz. Lautlos. Ich hatte mich immer gut im Wald zurechtgefunden. Schon als Kind. Ich wusste nicht, warum, aber in irgendetwas war ja jeder gut.
    Dann sah ich einen Lichtschimmer, blieb stehen und lauschte. Das Scharren hatte aufgehört. Es wurde nicht mehr gegraben. Außer dem Zirpen der Grillen war nichts zu hören. Plötzlich raschelte es in dem Gestrüpp zu meiner Linken. Ein Grunzen, dann ein Schrei. Der Schrei einer Frau. Sarah.

FÜNF
    Dornenzweige peitschten in mein Gesicht, zerkratzten meine Haut. Ich spürte Blut auf einer Wange und schmeckte es auf den Lippen. Ich schlug das Gewirr der Sträucher zur Seite und hörte den nächsten Schrei. Ich hastete an dunklen Baumstämmen vorbei und machte hohe Schritte, um mit den Füßen nicht im Unterholz hängen zu bleiben. Mit einem Mal fiel der Boden vor mir so jäh ab, dass ich mich gerade noch abfangen konnte. Vorsichtig arbeitete ich mich den steilen Hang hinunter, bis ich aus den Bäumen hinaustrat und auf einen Pfad stieß. Dort war der Flussgeruch intensiver als zuvor, doch sein Wasser konnte ich in der Dämmerung nicht erkennen. Dafür erkannte ich Sarah. Sie lag wenige Meter vor mir auf dem

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