Kein Opfer ist vergessen
ihr sogar bis nach Kanada hinterhergepaddelt und irgendwo mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht ertrunken. Hinter der Brandung war der See nicht mehr so kabbelig. Wir ließen uns treiben.
»Früher habe ich im Sommer als Rettungsschwimmerin gearbeitet.« Auf dem leeren dunklen See hörte ihre Stimme sich einsam an.
»Wo?«
Sie nickte in die Richtung von Michigan. »In Harbor Springs.«
Harbor Springs war mir ein Begriff. Zumindest hatte ich Fotos davon gesehen. Klares, blaues Wasser, breite Sandstrände und dicke Rasenteppiche, die sich zu Häusern mit Giebeldächern hochwellten, mit umlaufenden Veranden und Korbmöbeln. Männer mit blendend weißen Zähnen und schweren Golduhren. Frauen mit makellosem Teint und breitrandigen Hüten. Gebräunte Menschen, die ewig lebten und Gin Tonic tranken.
»Soll ganz nett sein«, sagte ich.
»Da komme ich her.«
»Ach ja?«
»Jeder kommt irgendwoher. Es ist wie eine zweite Haut. Chicago war für mich wie eine andere Welt.«
»Kann ich mir denken.«
Für eine Weile traten wir stumm Wasser. Der Himmel war schwarz und tief, unglaublich weit, mit einer Handvoll bleicher Sterne bestreut. Dann kam eine Brise auf, und mein Körper verkrampfte sich in der Kälte. Sarah schien gegen die Kälte immun zu sein.
»Ich bin kein großer Schwimmer«, bekannte ich.
»Dafür hältst du dich aber ziemlich gut.«
Eine Welle schnappte nach meinem Kinn. Ich spuckte einen guten Schluck Wasser aus. »Es ist trotzdem saukalt.«
Sie lachte. »Komm her, ich wärme dich.«
Sarah schwamm zu mir und schlang ihre Beine um mich. Ich spürte die Kraft ihrer Schenkel.
»Wenn du zum Rettungsschwimmer ausgebildet wirst, lernst du, die Körperwärme zu teilen.« Sie spie eine winzige Wassermenge aus.
»Echt wahr?« Ich klang heiser und rang nach Atem.
»O ja.« Sarah umschlang mich noch fester und rieb sich an mir. Die Wassertemperatur dürfte bei fünfzehn Grad gelegen haben, aber bei mir tat sich was. Und Sarah musste es spüren. »Warm zu bleiben ist wichtig«, sagte sie. Ihr Gesicht war nur weniger Zentimeter von meinem entfernt, ihre Arme lagen auf meinen Schultern.
»Soso.«
Sie nickte, während wir von einer Welle getragen wurden. Ich wurde an Sarah gedrückt. Diesmal war es ein richtiger Kuss, lang, tief und nass. Ich spürte ihre Brüste und durch den Stoff ihres BH die harten Brustwarzen. Wir lösten unsere Münder voneinander, doch unsere Körper blieben in Kontakt. Ihre Augen waren geschlossen, der Kopf zurückgelegt. »Schön.« Sarah öffnete die Augen und bespritzte mich. »Los, wir schwimmen um die Wette zurück.« Schon tauchte sie unter und durchschnitt das Wasser in Richtung Strand. Ich schwamm ihr nach, bis die Wellen uns auf den Sand schoben. Sarah erhob sich aus den Fluten. Ich hielt mich noch kurz in der Brandung auf, was mir, offen gestanden, gelegen kam, denn bevor ich mich an den Strand wagen konnte, musste Mutter Natur erst mal zur Ruhe kommen. Also ließ ich mich treiben und sah Sarah zu, die ohne jede Scham über den Strand lief. Ihr fester, gebräunter Körper zeichnete sich in der Dunkelheit ab. Schlanke, muskulöse Beine, vollendet proportioniert. Sie war schön. So schön, wie man nur sein konnte. Und plötzlich machte mich das traurig.
Sie sammelte ihre Kleidungsstücke ein, setzte sich auf einen Felsen und zog sich an. Als ich sicher war, dass ich es wagen konnte, verließ ich den See. Sie saß da und wartete auf mich.
»Das hat Spaß gemacht.« Sie reichte mir den Wodka, aber ich hatte keine Lust mehr zu trinken. »Spaß« war nicht das Wort, das mir durch den Sinn ging, obwohl ich es vor einer Stunde noch zutreffend gefunden hätte. Hatte die Grenze sich verschoben? Waren Sarah Gold und Ian Joyce ein Paar? Ich kicherte und griff nach der Flasche.
»Worüber lachst du?«, fragte Sarah.
»Der Mensch sollte nie über sich hinausstreben.«
»Robert Browning. Aber so hat er das nicht gesagt. Oder gemeint. Es war sogar genau das Gegenteil.«
»Inwiefern?«
»Das Zitat heißt: ›Wenn unser Streben nicht größer ist als unsere Reichweite … Wozu gibt es dann den Himmel?‹ Englische Literatur war einer meiner Schwerpunkte im Grundstudium.«
»Ich gebe mich geschlagen.«
Sie gab mir einen spielerischen Knuff in die Seite. Wir machten uns auf den Rückweg, die Hände lose ineinander verschränkt. Es bedeutete nicht viel und doch alles. Nach etwa dreihundert Metern ließen wir uns wieder nieder. Ich glaubte, am Rand des Ufers einen Schatten zu sehen,
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