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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
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war.
    »Ist das da dein Bruder?«, fragte ich.
    Er nickte. »Hat Sarah dir von ihm erzählt?«
    »Nicht viel. Es tut mir leid, Jake.«
    »Schon gut. Er hieß Charley.« Jake stellte das Foto zurück auf den Tisch. »Hat sie dir auch erzählt, dass ich adoptiert wurde?«
    »Nein.«
    »Ist aber so. Von netten Menschen. Ich liebe sie sehr.«
    »Aber?«
    »Nichts aber.« Er zuckte mit den Schultern. »Es ist einfach nicht das Gleiche.«
    Ich nickte zu dem Foto hinüber. »So was habe ich nie gemacht. Und ich hatte eine richtige Mutter.«
    »Wo ist die Pointe?«
    »Nur das.«
    »Nur was?«
    »Jeder ist anders. Und jeder hat ein Kreuz zu tragen.«
    »Wahnsinn, das muss ich mir aufschreiben.« Mit einer Kopfgeste deutete er auf den Flur. »Willst du die Kartons jetzt oder nicht?«
    Er führte mich zu einer kleinen Abstellkammer. Auf dem Boden standen zwei feste Kartons, die mit Klebeband umwickelt waren. Die Rolle Klebeband und ein Messer lagen daneben. Jeder von uns schnappte sich einen Karton, dann gingen wir rüber zum Auto und verstauten sie im Kofferraum.
    »Bis morgen«, verabschiedete ich mich.
    »Um halb zehn an Wingates Schule. Komm nicht zu spät.«
    Ich hielt ihm die Hand hin. Beim Schütteln verschwand sie fast in seiner.
    »Das von vorhin tut mir leid«, sagte Havens. Die letzten Worte waren nur gemurmelt.
    »Muss es nicht.«
    »Bullshit. Was ich gesagt habe, war idiotisch. Ich liebe meine Eltern. Ein Glück, dass ich sie habe.«
    »Denke ich auch.«
    »Wir sehen uns morgen, Joyce.«
    »Bis dahin.« Ich stieg in meinen Wagen und fuhr los. Im Rückspiegel sah ich Havens, der auf der Straße stand, die Hände in die Seiten gestützt, und mir nachschaute.

ZWEIUNDZWANZIG
    Die Grundschule, die Skylar Wingate besucht hatte, lag im Nordwesten der Stadt. Es war ein roter Ziegelbau mit einem zementierten Schulhof an der Seite. Sarah und ich waren um kurz nach neun Uhr da. Havens saß bereits auf der Eingangstreppe.
    »Habt ihr heute Zeitung gelesen?«, begrüßte er uns.
    »Ich lese keine Zeitung«, meinte Sarah.
    »Auch nicht online?«
    »Dazu bin ich heute Morgen nicht gekommen.«
    »Und du, Joyce?«
    »Ich habe mich nur durch ein paar Artikel gescrollt.«
    »Unser Freund Rodriguez war in der Zeitung.«
    »Und?«
    »Endlich hat die Polizei eine Erklärung über die Leiche in der Höhle abgegeben. Ich dachte, die Presse würde den Fall aufgreifen, aber Ausreißer sind wohl nicht interessant genug.«
    »Also kümmert es alle einen Dreck«, sagte Sarah.
    »John Wayne Gacy hat dreiunddreißig Kinder ermordet«, sagte Havens. »Etliche von ihnen sind bis heute noch nicht identifiziert worden.«
    »Und weiter?«, fragte Sarah.
    »Hat dich das jemals interessiert?«
    »Ich habe nicht gewusst, dass –«
    »Genau. Du hast es nicht gewusst.« Havens wischte das Thema mit einer Handbewegung fort. Sarah sah aus, als wollte sie ihm eine langen.
    »Vielleicht sollten wir uns auf den Tag heute konzentrieren.« Ich deutete auf die Reihe von Fenstern, hinter denen die Vorhänge fest zugezogen waren. »Wo sind die ganzen Kinder?«
    »Sommerferien«, sagte Havens. »Bis zum Herbst ist es hier wie in einer Geisterstadt.«
    »Weißt du, wo Skylar zum letzten Mal gesehen wurde?«
    Havens zeigte zum anderen Ende des Schulhofs hinüber. »Durch dieses Tor da hat er die Schule verlassen.«
    »Gut, in die Richtung muss ich sowieso.«
    »Willst du wirklich nicht mit rein?«, fragte Havens. »Mit dem Lehrer reden?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Das könnt ihr übernehmen. In einer Stunde bin ich bei euch.«
    Havens stand auf und stieg die letzten Stufen zur Eingangstür hoch. Sarah warf ihm einen verärgerten Blick zu, ehe sie mir zum Abschied winkte und ihm folgte. Ich wartete, bis die beiden im Gebäude verschwunden waren. Dann holte ich mein iPhone heraus und suchte nach der Erklärung, die Rodriguez abgegeben hatte. Ich scrollte durch die Meldung, doch der Name des Opfers in der Höhle war nirgends zu finden. Ebenso wenig gab es Hinweise auf Spuren, denen die Polizei nachging. Ich betrat den Schulhof und lauschte. In der Stille hörte ich ihre Stimmen, das Wispern toter Kinder. Unter ihnen Skylar Wingate. Ein zehnjähriger Junge, der hier gespielt hatte, in einem verstaubten Pferch, ehe es ans Schlachten ging.
    Ich überquerte den Schulhof und trat durch das Tor hinaus. Die Häuser hier ähnelten denen in Evanston, zurückgesetzt von der Straße, mit großen Vorgärten, Bäumen und tiefen Schatten. Vögel zwitscherten. Irgendwo kreischten

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