Kein Opfer ist vergessen
Warum?«
»Was glaubst du, warum er sich so in den Fall Wingate verbeißt?«
»Vielleicht liegt es an dem Brief, den er erhalten hat.«
»Nein, dahinter steckt mehr.« Sie rückte mit ihrem Stuhl näher an den Tisch und beugte sich vor, bis sich unsere Köpfe fast berührten. Dann platzte sie damit heraus. »Jake hatte einen jüngeren Bruder, der an der Ostküste ertrunken ist. Auf Cape Cod, glaube ich. Wusstest du das?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Jake war damals zehn oder zwölf, und sein Bruder muss etwa acht gewesen sein. Sie sind von Felsen ins Meer gesprungen. Ihr Vater hatte ihnen verboten, an der Stelle zu schwimmen, aber sie haben es trotzdem getan. Jakes Bruder hat sich beim Tauchen in den Seilen von Hummerfallen verheddert. Jake ist immer wieder runter und hat erfolglos versucht, ihn freizubekommen. Er musste zusehen, wie sein Bruder ertrank.«
»Hat Jake dir das erzählt?«
»Ja. Als wir dich neulich nach Hause begleitet haben, sind wir nachher noch ein Bier trinken gegangen.«
»Und warum erzählst du es mir?«
»Was weiß ich. Vielleicht, um zu erklären, warum Jake den Fall Wingate nicht loslassen kann.«
»Du glaubst, das hängt mit dem Tod seines Bruders zusammen?«
»Du nicht?«
»Womöglich ist das ja auch der Grund, warum gerade er diesen Brief bekommen hat. Vielleicht wusste die Person, die ihn unter die Tür geschoben hat, etwas über die Sache mit dem Bruder. Und hatte die Hoffnung, dass Jake besonders empfänglich für den Fall ist.«
Ich schaute über die Central. Jetzt um die Mittagszeit war die Sonne stechend und grell geworden. Eine Frau in Jeans und weißem Top schrie ihr Kind an, das sich zu nah an die Straße gewagt hatte. Wir tranken aus, standen auf und liefen stumm nebeneinander her, als hätte die Geschichte von Havens und seinem Bruder eine Leere hinterlassen, die wir nicht überbrücken konnten. Nach einer Weile kehrten wir über die Central zurück. Auf den letzten Metern zu Sarahs Wagen kam eine wohltuende Brise auf.
»Fährst du nach Hause?«, fragte ich.
Sarah nickte. »Komm, steig ein. Ich fahr dich zurück.«
Auf dem Beifahrersitz stemmte ich einen Fuß gegen das Handschuhfach. Ich wusste, Sarah hatte nichts dagegen, denn sonst hätte ich es nicht getan. Sie fuhr los und stellte das Autoradio an. Wir hörten ein Stück aus Exile on Main Street . »Shine a Light«. Sarah sang den Text mit.
»Magst du die Stones?«, fragte ich.
»Ich habe den Film von Scorsese gesehen.«
»Kauf dir das Album. Du musst es dir ganz anhören.«
Sarah salutierte. »Yes, Sir.«
Sie hielt vor meinem Haus.
»Danke fürs Heimfahren«, sagte ich. »Wir sehen uns Dienstag.«
»Sollen wir zusammen zu der Schule fahren?«
»Warum nicht.«
»Gut, dann hole ich dich ab.« Sie drehte sich zu mir um und gab mir einen trockenen Kuss auf den Mund. Wenn überhaupt, küsste eine Schwester so ihren Bruder. Unsere Nacht am See war damit eindeutig zu den Akten gelegt. Ich öffnete die Wagentür. Sarah tippte auf meinen Arm. »Du musst die Kartons noch aus dem Kofferraum holen.«
»Die habe ich nicht vergessen.«
»Soll ich dir helfen, sie ins Haus zu tragen?«
»Fürs Erste bringen wir sie in meinen Wagen.«
Wir stellten die Kartons auf meinen Rücksitz. Sarah setzte sich auf die Kühlerhaube und ließ ihre Füße baumeln. »Die Parade am 4. Juli«, begann sie.
»Was ist damit?«
»Gehst du hin?«
Ich ging nie zu der Parade. Aber bescheuert war ich nicht. »Hab ich mir noch nie entgehen lassen«, meinte ich. »Warum fragst du?«
»Ich dachte, es könnte lustig sein, sie anzusehen.«
»Möchtest du das?«
Sarah nickte. »Wenn du mich mitnimmst.«
»Na klar.«
»Großartig. Wann treffen wir uns?«
»Morgens muss ich schnell noch ein paar Dinge erledigen, aber danach bin ich frei. Wie wäre es so gegen elf? Wir könnten was frühstücken gehen.«
»Abgemacht. Gehst du morgen zu Jake?«
»Ja, um die anderen Kartons abzuholen.«
»Gut.« Wir schwiegen einen Moment und schauten uns an.
»Ich werd dann mal«, meinte Sarah schließlich, rutschte von der Kühlerhaube herunter und umarmte mich. »Bis Dienstag.«
Ich wartete, bis ihr Audi um die Ecke verschwunden war. Dann stieg ich hinten in meinen Wagen und überflog das Material, das Jake zusammengetragen hatte. Sarah war davon ausgegangen, dass ich die Kartons in mein Haus schaffen würde, aber seit meiner Begegnung mit der Polizei von Chicago, hatte ich dazugelernt. Deshalb nahm ich mein Handy und tätigte einen
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