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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
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Anruf.

EINUNDZWANZIG
    Jake Havens wohnte an der 46. Straße, Ecke Greenwood. Das Viertel hieß Kenwood und lag in der South Side. Die Gegend war ebenso eigenartig wie Havens selbst. Ging man zehn Blocks in die eine Richtung, stieß man auf das Anwesen, das Barack Obama gehörte. Dahinter begann der Campus der University of Chicago. Lief man eine halbe Meile in die andere Richtung, fand man Abrisshäuser, die nackt in der Landschaft standen, mit verlassenen Wohnungen und verbarrikadierten Fensterlöchern. Überall Stille. Mit Ausnahme der Stellen, an denen rund um die Uhr Drogenhändler herumlungerten.
    Es war schon fast vier Uhr nachmittags, als ich vor dem Haus anhielt, in dem Jake wohnte. Auf der Straßenseite gegenüber befand sich ein kleiner Park, der nach Gwendolyn Brooks benannt worden war, einer Dichterin aus Chicago. Auf einem asphaltierten Platz warfen ein paar Kids Körbe. Eine Frau schob einen Buggy über einen sonnenbeschienenen Pfad. Am anderen Ende des Blocks war ein Postbote zu Gange, und ein Mann mit freiem Oberkörper wusch auf der Straße seinen Wagen mit Schwamm und Wasser.
    Havens wohnte im zweiten Stock eines Ziegelsteinbaus mit sechs Wohnungen. Ich klopfte an seiner Tür. Sie öffnete sich quietschend.
    »Hallo? Jake?«
    Ich machte einen Schritt in die Wohnung und verharrte. Vor mir lag ein verstaubter Flur, der in ein Zimmer mündete. Die Tür stand weit offen, die schweren Jalousien an den Fenstern waren heruntergelassen.
    »Havens? Bist du da?«
    Zögernd lief ich über den Flur und betrat den Raum am anderen Ende. Offenbar handelte es sich dabei um ein Wohnzimmer. Ich sah ein billiges Sofa auf einem abgewetzten Läufer und zwei kleine runde Tische. Auf einem von ihnen befand sich ein gerahmtes Foto von Jake als Junge. Ich nahm es in die Hand und betrachtete es genauer: Jake auf einem Boot. Er grinste in die Sonne und hielt einen Breitmaulbarsch hoch, der halb so groß war wie er selbst. Neben ihm saß ein kleinerer Junge, mit flachsblondem Haar, das Gesicht voller Sommersprossen. Er sah zu Jake hoch, so unschuldig und ehrfürchtig zugleich, dass der Anblick einem das Herz hätte zerreißen können. Ich konzentrierte mich auf Jake. Es war alles schon da: die ausgeprägte Kinnpartie, die klaren Augen, die Gewissheit, wer er war, und die natürliche Art, in der er dominierte. War das der Ausflug gewesen? In jenem Sommer, als Jake mit zehn oder zwölf Jahren ins kalte Meerwasser getaucht und den Seilen der Hummerfallen gefolgt war. Als er zugesehen hatte, wie sein Bruder ertrank?
    Ich stellte das Bild zurück und begann, die Wohnung zu durchstreifen. Von dem Hauptflur zweigte ein kleinerer ab. Von ihm aus gelangte man auf einer Seite in die Küche, in der es dunkel war. Auf der anderen waren zwei Türen, eine geschlossen, die andere offen. In dem Raum dahinter brannte ein gelbes Licht. Ich ging darauf zu.
    Ein Schlafzimmer – obwohl mir nicht klar war, wo Havens hier schlafen konnte. Überall auf dem Bett lagen die Unterlagen aus unseren Nachforschungen, über den Fußboden waren Akten verstreut, andere standen aufgereiht unten an einer Wand. An die Wände rundum hatte Jake Fotos, Skizzen und Notizen gepinnt, genauso an die Tür, die Möbel und jede andere freie Fläche. Ich zupfte ein Stück Papier vom Kopfteil des Bettes. Es zeigte den Grundriss eines Gebäudes.
    »Das Original liegt in einem der Kartons, die ich dir gegeben habe.«
    Ich fuhr herum. Havens stand im Türrahmen, mit vor der Brust verschränkten Armen und einem schiefen Lächeln.
    »Hey«, sagte ich matt und klang, als wäre ich außer Atem. »Die Wohnungstür war offen. Also bin ich reingekommen.«
    »Reinkommen bedeutet, dass man eine Wohnung betritt, sieht, dass keiner da ist, und sich still ins Wohnzimmer setzt.«
    Mein Gesicht brannte, aber einen Rückzieher würde ich nicht machen. Nicht bei Havens. »Falls du auf eine Entschuldigung wartest, stehen wir morgen noch hier.«
    Kopfschüttelnd nahm er mir das Blatt aus der Hand. »Weißt du, was das ist?«
    »Eine technische Zeichnung.«
    »Es ist der Grundriss von Skylars Schule.«
    »Wo wir morgen hingehen.«
    »Als Skylar verschwunden war, haben die Cops die Schule auf den Kopf gestellt. Hier haben sie anderthalb Tage verbracht.« Er deutete auf eine Stelle, die er rot umrandet hatte. »Das ist der Heizungskeller.«
    »Warum gerade da?«
    »Keine Ahnung, aber da haben sie alles durchsucht. Morgen werd ich mich da selbst mal umsehen.«
    Er faltete die Seite zusammen und

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