Kein Opfer ist vergessen
spielende Kinder. Dann stand ich auf der Peterson Avenue an einem Zebrastreifen. Der Verkehr floss in beiden Richtungen. Hier war Skylar vermutlich stehen geblieben und hatte eine Entscheidung getroffen. Er konnte nach links gehen, an zwei Ladenzeilen entlanglaufen und seine Straße in einem Bogen erreichen. Oder er hielt sich an die Nebenstraßen und nahm einen Umweg nach Hause. Die Polizei war der Ansicht gewesen, dass er die Abkürzung genommen hatte. Auf dem Weg wäre er am Straßenverein vorbeigekommen.
Ich drückte auf den Knopf an der Ampel und wartete auf das Signal, das mich zum Gehen aufforderte. Als ich die Peterson überquert hatte, wandte ich mich nach links.
Der Straßenverein war in einem Schindelhaus untergebracht. Auf der einen Seite wurde er von einer Porno-Videothek flankiert, auf der anderen von einem Schnapsladen. Es war noch früh am Morgen, sodass kaum Kunden zu sehen waren. Nur ein Junge und ein Mädchen, beide tätowiert und gepierct, saßen auf dem Boden und lehnten sich an den Sockel des Schindelhauses. Der Junge war heruntergekommener als das Mädchen und streckte die Hand aus, als er mich entdeckte. Ich fand drei Dollar in der Hosentasche und gab sie ihm. Daraufhin wurde auch das Mädchen auf mich aufmerksam, eine junge Latina, mit blonden Strähnen im dunklen Haar. Ihre Augen hatte sie mit braunem Lidstrich umrandet, der Mund war breit, mit vollen Lippen. Und doch enthielt das Gesicht eine gewisse Härte und gehörte zu denen, die schnell alt wurden.
Ich hörte ein Gurren und schaute auf die Hände des Mädchens. Sie lagen auf ihrem Schoß und wölbten sich um etwas. Sie löste sie, und ich sah, dass sie eine kleine braun-weiß-gesprenkelte Taube hielt. Ich trat zurück, doch der Vogel starrte mich nur an.
»Ist das deine Taube?«, fragte ich.
Das Mädchen hob die Hände, und das Vögelchen stieg auf und flog davon. »Suchst du jemanden?«, fragte sie.
Ich nickte zum Eingang des Straßenvereins rüber und sagte einen Namen. Sie schüttelte den Kopf. Ich nannte einen zweiten Namen. Sie stand auf und bedeutete mir, ihr zu folgen. Sie war kleiner, als ich gedacht hatte, doch ihre Schultern waren kräftig. Sie bewegte sich wie eine Sportlerin.
In der Eingangshalle befand sich ein langer Tresen, dahinter eine Wand mit offenen Fächern, voller Taschen, Kartons und Konservendosen. Das Mädchen zeigte auf eine Reihe Klappstühle und verschwand durch eine Tür. Ich setzte mich und wartete. Fünf Minuten später kam eine Schwarze aus der Tür, die ich auf Mitte sechzig schätzte. Sie war dünn, hatte feine Gesichtszüge und eine gezackte Narbe von der Kinnspalte bis zur Unterlippe. Sie gab mir die Hand mit festem Griff. Ihre Haut war trocken.
»Ich bin Grace Washington und leite diesen Verein«, sagte sie, und sah mir dabei in die Augen.
»Ian Joyce. Ich studiere an der Medill.«
Grace nickte, als hätte sie mit nichts anderem gerechnet. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich arbeite an einer Story. Dabei geht es um etwas, das schon eine Weile zurückliegt.« Mein Blick wanderte zu der Tür hinter ihr.
»Möchten Sie lieber in meinem Büro darüber reden?«, fragte Grace.
»Das wäre vielleicht besser.«
Sie geleitete mich durch die Tür über einen kleinen Flur in eine Kammer mit Schreibtisch, zwei Stühlen und Aktenschrank. Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Grace schloss die Tür und nahm mir gegenüber Platz.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
Ich zog die Notizen hervor, die ich mir über James Harrison gemacht hatte, und legte sie auf meinen Schoß. »Es geht um einen Mord.«
Grace hob eine Braue, sagte jedoch nichts.
»Im Jahr 1998 wurde einer Ihrer Gäste wegen Mordes an einem Jungen hier aus der Gegend verurteilt. Der Name des Mannes war James Harrison. Der Junge hieß Skylar Wingate.«
»Ich kannte James.«
»Das weiß ich. Ihr Name stand in einem der Polizeiberichte.«
»Ach.«
Ich sortierte die Seiten auf meinem Schoß. »Ich nehme an einem Seminar teil, in dem wir uns mit alten Fällen befassen.«
»Fälle, von denen Sie glauben, dass der Verurteilte unschuldig gewesen sein könnte?«
»Genau.«
Grace beugte sich vor und senkte die Stimme. »Aber Sie wissen schon, dass es James seit Langem nicht mehr interessiert, ob er schuldig ist oder nicht?«
»Ja, ich weiß, dass er im Gefängnis gestorben ist. Aber ich finde, wenn er unschuldig war, sollten wir uns den Fall trotzdem noch einmal ansehen.«
»So, finden Sie.«
»Ja, Madam.«
»Wie vielen
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