Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
Vom Netzwerk:
steckte sie in seine Hosentasche.
    Ich schaute über seine Schulter in den trübe beleuchteten Flur hinaus. »Wohnt hier noch jemand außer dir?«
    »Ja, aber er ist verreist. Feiert den 4. Juli zu Hause in Columbus.«
    »Schläfst du in diesem Zimmer?«
    Havens lachte. »Ich nenne es das ›hässliche braune Zimmer‹. Zum Schlafen schiebe ich ein paar Unterlagen vom Bett und krieche unter die Decke. Ich weiß, das klingt irrwitzig, aber so ticke ich nun einmal. War immer so. Auf dem College, während des Jurastudiums. Ich lasse mich einfach in meinem Material versinken. Buchstäblich. Wenn ich alles erfasst habe, tauche ich wieder auf.
    Mein Blick fiel auf ein großes Foto von Billy Scranton in Schuluniform, das Havens an die Wand gepinnt hatte. Ich nahm es ab und hielt es hoch. »Macht dir so ein Foto nicht zu schaffen?«
    »Du meinst, die Morde.«
    »Die Morde, die Jungen, das Beweismaterial – in deinem Schlafzimmer?«
    »Ach, daran gewöhnt man sich. Hier unten habe ich noch viel mehr.« Havens kramte in einem Papierberg auf dem Boden und sammelte einen Stapel Mappen zusammen.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    » V i CAP hat achtzehn weitere Fälle gefunden, die zu unserem Muster passen.« Havens legte die Mappen der Reihe nach auf sein Bett. An jedem Deckblatt haftete das Foto eines Kindes.
    »Das sind eine Menge Kinder«, sagte ich.
    »Wenn ich noch die miteinbezogen hätte, deren Leiche nie gefunden wurde, hätten wir drei Mal so viel.«
    »Willst du behaupten, dass alle mit Skylar Wingate zusammenhängen?«
    »Ich behaupte gar nichts. Die Fälle entsprechen bloß unseren allgemeinen Suchparametern. V i CAP lässt jeden Suchbefehl durch mehrere Filter laufen, ehe die endgültige Liste entsteht. Kann sein, dass keiner der anderen Fälle genau unserem speziellen Muster entspricht. Aber wissen kann man das nie.«
    »Warum nicht?«
    »Willst du einen Kaffee?«
    »Würdest du vielleicht meine Frage beantworten?«
    »Komm, wir trinken eine Tasse Kaffee.«
    Wenig später saßen wir in Havens’ Küche, wo es nicht den kleinsten Hinweis darauf gab, dass er sie jemals benutzte. Nirgendwo standen Töpfe, Pfannen, Schüsseln oder Gläser. Nahrungsmittel waren auch nicht zu sehen. Außer einer Kaffeemaschine, einem Päckchen Kaffee und ein paar Bechern war nichts da. Wir saßen unter dem blassen Licht einer Deckenlampe auf Hockern und tranken den lauwarmen Rest einer Sumatra-Mischung.
    »Heute Morgen war ich im Juristischen Seminar, um mir die Ergebnisse einer weiteren V i CAP -Recherche abzuholen«, sagte Havens. »Wie mein Prof mir mitgeteilt hat, wurde mein Antrag abgewiesen.«
    »Was bedeutet das?«
    »Dass jemand den Informationsfluss abgeknipst hat. Über die anderen Fälle, die wir haben, kriege ich keine weiteren Daten. Ich bin nicht mal mehr ins System gekommen.«
    »Wie hast du dich eingewählt?«
    Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. »Du teilst also meine Meinung.«
    »Was meinst du?«
    »Dass wir über die nächste Tretmine gestolpert sind und irgendwo die Alarmglocken geschrillt haben.«
    »Wie hast du dich eingewählt, Jake?«
    »Über einen Computer bei den Juristen, zu dem jeder Zugang hat. Man kann die Anfrage nicht zu mir zurückverfolgen. Auch nicht zu meinem Prof.«
    »Und trotzdem wurde alles gesperrt.«
    »Mein Prof glaubt, das sensible Material in V i CAP wird markiert und löst auf die Weise eine automatische Sperre aus, wenn jemand Zugang sucht. Es ist ein Sicherheitssystem für die, die Dreck am Stecken haben.«
    »Wie viel weiß dein Prof über das, was wir tun?«
    »So gut wie nichts. Vielleicht wüsste er gern mehr, aber ich habe mich bedeckt gehalten.«
    Während wir unseren Kaffee tranken, stellte ich mir ein virtuelles Schachspiel vor, nur dass unser Brett ein Friedhof war und unsere Läufer tote Kinder.
    »Ich glaube nicht, dass ich alles mitnehmen kann. Den ganzen Kram aus deinem Zimmer. Es passt ja nicht mal in meinen Wagen.«
    »Brauchst du auch nicht. Ohne Zugang zu V i CAP sind wir bei den neuen Fällen sowieso aufgeschmissen. Die Unterlagen sind größtenteils Kopien. Im Grunde möchte ich nur, dass du zwei Kartons mitnimmst.«
    »Okay.«
    »Sollen wir sie holen?«
    »Ja.«
    Wir gingen ins Wohnzimmer. Ich nahm das Foto von Jake auf dem Boot noch einmal in die Hand. Es war der einzige Beweis dafür, dass jemand in den Räumen hier ein Leben führte. »Schöner Fang«, sagte ich.
    Jake nahm mir das Foto ab und betrachtete es, als hätte er vergessen, wer darauf abgebildet

Weitere Kostenlose Bücher