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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
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verurteilten Mördern sind Sie bisher schon begegnet, Ian?«
    »Keinem.«
    »Sieh an. Kennen Sie auch das Ergebnis der DNA -Analyse? Dass das Blut an James’ Hose mit dem des Jungen übereinstimmte?«
    »Wir sind der Ansicht, dass die Analyse keinen Sinn ergibt.«
    »Und wie kommen Sie darauf?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Mehr darf ich dazu nicht sagen.«
    »Klingt, als wüssten Sie etwas, das dem Rest von uns unbekannt ist.« Ihr Blick verschärfte sich, aber ich blieb stur.
    »Fein, Ian. Was möchten Sie wissen?«
    »Was haben Sie damals der Polizei erzählt?«
    »Nichts. Die Beamten kamen rein, wollten sehen, wo James geschlafen hatte, haben eine Zeit lang herumgeschnüffelt und sind wieder gegangen.«
    »Haben sie irgendwas mitgenommen?«
    »Es ist lange her.«
    »Heißt das, Sie können sich nicht mehr daran erinnern?«
    »Sie haben alles mitgenommen, was James gehörte, und das war nicht viel.«
    »Glauben Sie, dass James es getan hat?«
    »Nie im Leben.«
    »Und wie steht es dann mit der DNA -Analyse?«
    Grace erhob sich, trat an den Aktenschrank und kam mit einem dünnen Ordner zurück. Sie schlug ihn auf und stutzte.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Nichts.« Sie entnahm dem Ordner ein Foto. »Haben Sie schon mal ein Foto von James gesehen?«
    »Nur das Polizeifoto.«
    Sie schob mir das Foto aus dem Ordner zu. Es war an einem sonnigen Tag vor dem Verein aufgenommen worden. James Harrison saß auf der Kante des Bürgersteigs, die Ellbogen auf den Knien und einen Zigarettenstummel zwischen Zeigefinger und Daumen. Seine Hautfarbe erinnerte mich an gehämmertes Kupfer, die Wangenknochen sprangen hervor, das Weiße um seine dunkle Iris hatte einen Stich in Gelbliche.
    »Wie alt war er da?«, erkundigte ich mich.
    »Das Foto wurde ein Jahr vor seiner Festnahme aufgenommen. Da dürfte er dreißig oder zweiunddreißig gewesen sein.«
    »Sieht ziemlich mager aus.«
    »Wenn er nicht betrunken war, hat er Drogen genommen. Zu der Zeit hatte er seit acht Jahren auf der Straße gelebt.« Grace steckte das Foto in den Ordner zurück. »Er war einer unserer Stammgäste. Nichts Besonderes. Nur ein lieber Kerl. Ruhig.«
    »Also keiner, der sich ein Kind von der Straße schnappt, um es zu ermorden?«
    »Eher einer, der sich selbst umbringt. Das wäre wohl sein Schicksal gewesen. Die Sache mit der DNA -Analyse ist mir nie ganz koscher vorgekommen.«
    »Tatsächlich?«
    »Ja. Die Polizei hat seinerzeit behauptet, das Blut an James’ Jeans gefunden zu haben.«
    »Und?«
    »Da wäre zunächst mal der Zeuge, der vorgegeben hat, James mit dem Jungen gesehen zu haben. Und dass er dabei die Jeans trug.«
    »Robert Atkinson.«
    »Richtig, Bobby Atkinson.« Grace schüttelte den Kopf. »Ein Junkie.«
    »So wie Harrison?«
    »Nicht ganz. Atkinson hätte das gesagt, was die Polizei von ihm hören wollte.«
    »Sie glauben also, er hat gelogen.«
    »Vielleicht nicht direkt gelogen, aber Bobby war nicht gerade der Zuverlässigste. Er erzählte einem nur die Hälfte und überließ es dem anderen, den Rest zu ergänzen. Und dann schwor er hoch und heilig, dass es so und nicht anders gewesen sei.«
    »Wo ist Atkinson jetzt?«
    »Tot.« Grace hielt den Ordner hoch. »Und dann hätten wir ja auch noch das hier.«
    Der Ordner kam auf mich zugeschlittert. Ich klappte ihn auf und sah zusammengeheftete Seiten. Auf der ersten stand obenan der Vereinsname und darunter in Druckschrift »Juni, Juli, August 1998«.
    »Das ist unsere Inventurliste über Kleidungsstücke und Nahrungsmittel«, erklärte Grace. »Wir tragen die Spenden ein.« Sie nahm die Liste, ging die Seiten durch und zeigte mir eine Spalte mit Spenden und Daten. Dann blätterte sie weiter und zeigte mir die nächste Seite. »Und das, was wir verteilen.«
    Ich überflog die Liste. Für jeden Tag existierte eine Seite. Grace wies mich auf einen Eintrag vom 6. Juli 1998 hin.
    »Das war zwei Tage, bevor der kleine Wingate verschwand. Wie Sie sehen, hatten wir da eine Wrangler-Jeans, Größe 32 im Bestand, mit einem Loch im linken Knie und einem Riss in der Gesäßtasche.«
    Ich sah sie abwartend an.
    »Diese Jeans habe ich James am 28. Juni gegeben. Er trug sie für einige Tage und gab sie mir zurück. Sie hat ihm nicht gepasst. ›Die rutscht runter‹, sagte James damals, und ich habe sie wieder in die Liste eingetragen.«
    »Am 6. Juli?«
    »So ist es.«
    »Und weiter?«
    »Das ist die Jeans, von der die Polizei behauptete, dass James sie am 8. Juli trug. An dem Tag, an dem er

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