Kein Opfer ist vergessen
sich irgendein Student und möchte über einen alten Fall reden. Sie hätten ihn abwimmeln können, aber stattdessen haben Sie ihm einen Termin gegeben.«
Moncata quittierte Havens’ Ausführung mit einem Lächeln. »Möchten Sie beide etwas trinken?«
Havens und ich lehnten dankend ab. Moncata holte sich eine Dose kalorienfreie Limonade aus dem Kühlschrank.
»Sie haben recht.« Er riss die Verschluss-Lasche ab und goss die Limonade in eine Tasse. »Der Fall Harrison beschäftigt mich noch immer.«
»Wie kommt das?«, fragte ich.
Moncata setzte eine Lesebrille auf und blätterte durch den Ordner. Dann hatte er das Gesuchte gefunden. »Hier ist der Ergebnisbericht meiner Analyse. Eine Übereinstimmung in allen Punkten. Es gab nicht den geringsten Zweifel. Der Blutfleck stammte vom Opfer.« Er klappte den Ordner zu. »Der Störfaktor war, dass Harrison das Geld für die Analyse selbst aufgetrieben hatte. Ich meine, wer macht denn so was? Ein Schuldiger hätte doch gewusst, wie das Ergebnis aussieht.«
»Woher kam das Probematerial?«, erkundigte ich mich.
»Vom zuständigen Gericht.«
»Und was genau hat man Ihnen geschickt?«
»Ein kleines Stoffstück von der Jeans des Angeklagten. Es wurde in einem versiegelten Beutel geliefert und war als Beweismaterial gekennzeichnet.«
»Ist das der übliche Ablauf? Man schickt Ihnen ein Beweisstück, Sie machen die Analyse und schicken es zurück?«, sagte ich.
Moncata wiegte den Kopf hin und her. »Nicht immer. So sollte es zwar sein, aber es kommt vor, dass ich ein Beweisstück bei der Analyse komplett aufbrauche. Oder aber ich behalte das, was noch übrig ist. Das hängt vom jeweiligen Fall ab. Und vom jeweiligen Gericht.«
»Und wie war es bei Harrison?«, fragte Havens.
»Als ich die Analyse abgeschlossen hatte, war der Mann tot.«
»Haben Sie Ihren Befund trotzdem an das Gericht weitergegeben?«
»Ja, aber er schien niemanden zu interessieren.«
»Was ist mit der Stoffprobe«, sagte ich. »Haben Sie die noch?«
Moncata schmunzelte. »Ich dachte mir schon, dass Sie danach fragen.« Er bückte sich, hob eine schwere Fall-Akte vom Boden auf und durchblätterte die Seiten. »Hier ist sie.«
Bei der Probe handelte es sich um einen verwaschenen Stofffetzen, nicht größer als vier Quadratzentimeter. Er steckte in einer versiegelten Klarsichthülle.
»Darf ich die Probe mal haben?«, fragte ich.
»Ja, aber nehmen Sie sie nicht aus der Hülle.«
Ich griff nach der Hülle, starrte auf das winzige Stoffstück und fragte mich, was um alles in der Welt ich mir jetzt davon erhoffte. Ich reichte sie an Havens weiter, der sie ähnlich ratlos betrachtete.
»Irgendwelche Erkenntnisse?« Moncata legte die Hülle zurück und faltete die Hände auf der Akte. Erwartungsvoll sah er von mir zu Havens, aber wir hatten nichts zu bieten. Moncata zuckte die Achseln. »Vielleicht erzählen Sie mir mal, um was es Ihnen eigentlich geht.«
»Wir glauben, dass Harrison reingelegt wurde«, antwortete ich.
»Das dachte ich mir schon. Haben Sie dafür auch einen Grund?«
Ich erklärte ihm die Sache mit der Inventurliste. Und dass Harrison, wie Grace sich erinnerte, am Tag seiner Festnahme eine grüne Chirurgenhose trug. Moncata rieb sich das Kinn. Als ich fertig war, schlug er den Ordner noch einmal auf. Diesmal zog er eine Seite heraus. Es war ein Bericht des Chicago Police Departments. »Bestandsaufnahme« war oben in großer schwarzer Druckschrift aufgestempelt.
»Der Bericht kam mit der Probe. Darin steht, dass der Angeklagte bei seiner Festnahme eine Jeans trug. Von dieser Jeans stammte die Probe, die wir hier haben.«
»Grace sagt, dass er an jenem Tag definitiv keine Jeans anhatte.«
»Leider interessiert sich so ziemlich keiner auf der Welt dafür, was Grace zu sagen hat.«
»Und doch haben Sie zugegeben, dass Sie den Fall merkwürdig fanden.«
»Ich finde jede Menge Fälle merkwürdig, aber was bedeutet das schon.«
»Könnte einiges bedeuten.«
»Nicht, wenn es um wissenschaftliche Arbeit geht. Bei DNA -Analysen gibt es so gut wie keine Grauzonen.«
»Und was ist, wenn jemand der Leiche von Skylar Wingate Blut entnommen hat?«, sagte ich. »Und dieses Blut auf die Jeans geträufelt hat?«
»Selbst wenn. Blut ist Blut. Ob es von einem Lebenden oder einem Toten stammt, kann ich nicht so ohne Weiteres feststellen.«
»Also gibt es keine Möglichkeit, irgendwelche Manipulationen nachzuweisen.«
Moncatas Telefon klingelte. Er warf einen Blick auf das Display. »Das
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