Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
einen einfachen Schnitt und den leuchtenden Rotton, den sie am liebsten mochte, mit übergroßen Knöpfen und eleganten Taschen. Wie fast jede Frau war auch Ruth in den Sechzigern ein Fan von Jacqueline Kennedy.
»Du hast davon angefangen.«
»Ich hatte auf Mitgefühl gehofft.«
»Du meckerst. Das machst du öfter, seit du älter bist. Wie über den Nachbarn, der den Baum gefällt hat. Oder die junge Frau an der Tankstelle, die dich nicht beachtet hat.«
»Ich hab nicht gemeckert, nur etwas festgestellt. Das ist ein Unterschied.«
»Du solltest nicht meckern. Das ist unattraktiv.«
»Ich bin viele Jahre davon entfernt, attraktiv zu sein.«
»Nein«, entgegnet sie. »Darin irrst du dich. Dein Herz ist immer noch schön. Deine Augen sind gütig, und du bist ein freundlicher und ehrlicher Mann. Das reicht, um dich auf ewig schön zu halten.«
»Flirtest du etwa mit mir?«
Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Weiß nicht. Tue ich das?«
Ich glaube schon. Und zum ersten Mal seit dem Unfall ist mir tatsächlich warm, wenn auch nur für einen Moment.
E s ist seltsam, denke ich, wie sich ein Menschenleben entwickelt. Gewisse Umstände in einem Moment können, wenn sie später mit bewussten Entscheidungen und Hand lungen sowie einer Wagenladung Hoffnung kombiniert werden, eine Zukunft schmieden, die vorherbestimmt scheint. Ein solcher Moment war meine erste Begegnung mit Ruth. Es war nicht gelogen, als ich Ruth sagte, ich habe im selben Augenblick gewusst, dass wir eines Tages heiraten würden.
Und doch hat die Erfahrung mich gelehrt, dass das Schicksal manchmal grausam ist und selbst eine Wagenladung Hoffnung nicht ausreicht. Für Ruth wurde das klar, als Daniel zuerst in unser Leben trat und dann wieder verschwand. Sie war damals über vierzig und ich noch älter. Das war ein weiterer Grund, warum sie nicht aufhören konnte zu weinen, nachdem Daniel fort war. Damals waren die gesellschaftlichen Erwartungen noch anders, und wir wussten beide, dass wir zu alt waren, um ein Kind zu adoptieren. Als Daniel verschwand, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich das Schicksal ein endgültig letztes Mal gegen Ruth verschworen hatte.
Obwohl sie von dem Mumps wusste und mich trotzdem geheiratet hatte, war mir klar, dass sich Ruth insgeheim immer an die Hoffnung geklammert hatte, der Arzt habe sich geirrt. Immerhin gab es keinen eindeutigen Beweis, und ich muss zugeben, dass ich ebenfalls eine geringe Hoffnung hegte. Weil ich jedoch meine Frau so liebte, stand das bei mir selten im Vordergrund. In den ersten Jahren unserer Ehe schliefen wir häufig miteinander, und wenn Ruth auch monatlich an das Opfer erinnert wurde, das sie durch die Heirat mit mir gebracht hatte, setzte es ihr anfangs nicht so stark zu. Sie glaubte wohl, der Wille allein, ihr tiefer Wunsch nach einem Kind könne es irgendwie möglich machen. Ihre unausgesprochene Überzeugung war, dass unsere Zeit käme, und das war der Grund, warum wir nie über Adoption sprachen.
Doch das war ein Fehler. Die 1 950er zogen vorbei, und unser Haus füllte sich langsam mit Kunstwerken. Ruth unterrichtete, und ich führte das Geschäft, und obwohl sie älter wurde, gab sie die Hoffnung nie ganz auf. Und dann kam, wie ein Geschenk des Himmels, Daniel. Er wurde erst ihr Schüler und dann der Sohn, nach dem sie sich im mer gesehnt hatte. Als dieser Traum mit einem Schlag endete, blieb nur ich übrig. Und das war nicht genug.
Die nächsten Jahre waren schwer für uns. Sie gab mir die Schuld, und ich mir ebenfalls. Der blaue Himmel unserer Ehe wurde grau und stürmisch, dann trüb und kalt. Gespräche wurden steif, und zum ersten Mal stritten wir. Manchmal hatte ich den Eindruck, es sei schon eine Zumutung für sie, mit mir im selben Zimmer zu sitzen. Sie verbrachte viele Wochenenden bei ihren Eltern in Durham – ihr Vater war gesundheitlich angegriffen –, und es gab Zeiten, in denen wir tagelang nicht miteinander redeten. Nachts im Bett fühlte sich der Raum zwischen uns an wie der Pazifik, ein für uns beide nicht zu überwindendes Meer. Sie wollte nicht, und ich hatte Angst, es zu versuchen, und so entfernten wir uns immer weiter voneinander. Es gab sogar eine Phase, in der sie darüber nachdachte, ob sie überhaupt noch mit mir verheiratet bleiben wollte, und abends, wenn sie ins Bett gegangen war, blieb ich im Wohnzimmer sitzen und wünschte mir, ein anderer zu sein, ein Mann, der ihr hätte geben können, was sie sich ersehnte.
Doch das konnte ich nun
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