Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
mal nicht. Ich war traurig ihretwegen und wütend auf mich selbst, und ich konnte nicht ertragen, was mit uns geschah. Ich hätte mein Leben gegeben, um sie wieder glücklich zu machen. Und während die Grillen in warmen Herbstnächten zirpten, legte ich die Hände vor das Gesicht und weinte und weinte und weinte.
» I ch hätte dich niemals verlassen«, versichert Ruth mir. »Es tut mir leid, dass du meinetwegen solche Befürchtungen hattest.« In ihren Worten liegt großes Bedauern.
»Aber du hast darüber nachgedacht.«
»Das schon, aber nicht ernsthaft. Jede verheiratete Frau denkt so etwas hin und wieder. Jeder Mann auch.«
»Ich nie.«
»Das weiß ich«, sagt sie. »Aber du bist auch anders.« Sie lächelt und streckt die Hand nach meiner aus. Sie streichelt über die Knötchen und Falten. »Einmal habe ich dich gesehen. Im Wohnzimmer.«
»Ich weiß.«
»Erinnerst du dich auch noch, was dann passiert ist?«
»Du bist zu mir gekommen und hast mich in den Arm genommen.«
»Es war das erste Mal, dass ich dich weinen sah, seit dem Abend damals im Park, nach dem Krieg«, sagt sie. »Es hat mir große Angst gemacht. Ich wusste nicht, was los war.«
»Es war unseretwegen. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Wie ich dich wieder glücklich machen konnte.«
»Du konntest nichts tun.«
»Du warst so ... wütend auf mich.«
»Nein, ich war traurig. Das ist ein Unterschied.«
»Spielt das eine Rolle? In jedem Fall warst du nicht glücklich mit mir.«
Sie drückt meine Hand, ihre Haut fühlt sich weich an. »Du bist ein kluger Mann, Ira, aber manchmal verstehst du Frauen nicht besonders gut.«
Damit hat sie recht.
»Ich war untröstlich, als Daniel fortging. Es wäre so wundervoll gewesen, ihn zu einem Teil unseres Lebens machen zu können. Und ja, ich war traurig, dass wir keine Kinder hatten. Aber auch, weil ich über vierzig war, selbst wenn du das vielleicht nicht nachvollziehen kannst. Die Dreißiger fand ich nicht schlimm, da fühlte ich mich zum ersten Mal wie eine Erwachsene. Aber über vierzig zu sein, ist für Frauen nicht immer leicht. An meinem Geburtstag konnte ich den Gedanken nicht abschütteln, dass mein halbes Leben schon vorbei war, und wenn ich in den Spiegel sah, entdeckte ich darin keine junge Frau mehr. Es war eitel, ich weiß, aber es hat mich gestört. Und meine Eltern wurden auch älter. Deshalb fuhr ich sie so oft besuchen. Mein Vater war damals schon im Ruhestand, es ging ihm nicht gut, wie du weißt. Für meine Mutter war es schwer, für ihn zu sorgen. Mit anderen Worten: Damals gab es keine einfachen Lösungen. Selbst wenn Daniel bei uns geblieben wäre, wären das harte Jahre gewesen.«
Darüber denke ich nach. Sie sagt das nicht zum ersten Mal, doch manchmal bezweifle ich, dass sie damit absolut aufrichtig ist.
»Es hat mir an dem Abend viel bedeutet, dass du mich umarmt hast.«
»Was sollte ich denn sonst tun?«
»Du hättest dich umdrehen und wieder ins Schlafzimmer gehen können.«
»So etwas hätte ich nicht übers Herz gebracht. Es tat mir weh, dich so zu sehen.«
»Du hast meine Tränen weggeküsst«, sage ich.
»Ja.«
»Und später im Bett haben wir uns in den Armen gehalten. Zum ersten Mal seit langer Zeit.«
»Ja«, sagt sie noch einmal.
»Und von da an wurde es langsam wieder besser.«
»Es wurde auch Zeit. Ich hatte es satt, traurig zu sein.«
»Und du wusstest, wie sehr ich dich immer noch liebte.«
»Ja. Das wusste ich immer.«
1 964, auf unserer Reise nach New York, erlebten Ruth und ich eine Art zweite Flitterwochen. Das war nicht geplant, und wir haben auch nichts Außergewöhnliches unternommen. Eher war es so, dass wir jeden Tag feierten, eine schlimmere Phase hinter uns gebracht zu haben. Wir hielten Händchen, während wir durch die Galerien spazierten, und lachten wieder. Ruths Lächeln, davon bin ich heute noch überzeugt, war nie ansteckender als in jenem Sommer. Es war auch der Sommer von Andy Warhol.
Seine Kunst, so kommerziell und doch ganz eigen, sprach mich nicht an. Gemalte Suppendosen interessierten mich nicht sonderlich. Ruth ebenfalls nicht, aber von Andy Warhol selbst war sie gleich beim ersten Treffen sehr angetan. Ich glaube, es war das einzige Mal, dass sie ein Werk nur wegen der starken Persönlichkeit des Künstlers kaufte. Sie wusste intuitiv, dass er die Sechzigerjahre entscheidend prägen würde, und wir erwarben vier Originaldrucke. Zu dem Zeitpunkt waren seine Bilder bereits teuer – wobei das natürlich
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