Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
ewigen Lackdämpfen nachts so schlecht, dass sie kaum schlafen konnte, erfuhr ich später.
»Wir kamen in euren Laden, weil wir wussten, dass deine Mutter Deutsch sprach. Man hatte uns gesagt, sie könnte uns helfen.« Ruth schüttelt den Kopf. »Wir hatten solches Heimweh, solche Sehnsucht danach, jemanden von zu Hause zu treffen.«
Ich nicke. Zumindest glaube ich, dass ich das tue. »Meine Mutter hat mir alles erklärt, als ihr wieder fort wart. Das war auch nötig. Ich konnte kein Wort von eurem Gerede verstehen.«
»Du hättest von deiner Mutter Deutsch lernen sollen.«
»Was für eine Rolle spielte das schon? Noch ehe du das Geschäft verlassen hattest, wusste ich, dass wir eines Ta ges heiraten würden. Uns blieb ja noch alle Zeit der Welt, um uns in irgendeiner Sprache zu unterhalten.«
»Das sagst du immer, aber es stimmt nicht. Du hast mich kaum angesehen.«
»Konnte ich auch nicht. Du warst das schönste Mädchen, das mir je begegnet war. Es war, als würde man versuchen, in die Sonne zu schauen.«
»Ach, Quatsch ...«, schnaubt sie auf Deutsch. »Ich war nicht schön. Ich war ein Kind. Ich war erst sechzehn.«
»Und ich war gerade neunzehn geworden. Letzten Endes hatte ich recht.«
Sie seufzt. »Ja. Du hattest recht.«
Natürlich hatte ich Ruth und ihre Eltern schon vorher gesehen. Sie gingen in unsere Synagoge und saßen immer relativ weit vorn, Fremde in einem noch nicht vertrauten Land. Meine Mutter hatte mich nach den Gottesdiensten auf sie aufmerksam gemacht, hatte sie unauffällig gemustert, wenn sie nach Hause eilten.
Den Spaziergang am Samstagvormittag, von der Synagoge zurück nach Hause, wenn ich meine Mutter ganz für mich allein hatte, habe ich immer geliebt. Unsere Unterhaltung wechselte mühelos von einem Thema zum anderen, und ich genoss ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich konnte ihr von jedem Problem erzählen, das ich hatte, jede Frage stellen, die mir in den Sinn kam, selbst solche, die mein Vater als sinnlos empfunden hätte. Mein Vater bot Ratschläge, meine Mutter Trost und Liebe. Mein Vater kam damals nie mit in die Synagoge; er zog es vor, samstags das Geschäft früh zu öffnen, in der Hoffnung auf Wochenendeinkäufer. Meine Mutter hatte Verständnis dafür. Zu dem Zeitpunkt wusste selbst ich bereits, dass es schwierig war, den Laden überhaupt noch zu halten. Die Depression traf Greensboro heftig, wie eigentlich das ganze Land, und manchmal kam tagelang kein einziger Kunde in unser Geschäft. Viele Menschen waren arbeitslos, und noch mehr litten Hunger. Die Leute standen Schlange für Suppe oder Brot. Viele der örtlichen Banken gingen pleite, Ersparnisse waren verloren. Mein Vater gehörte zwar zu jenen, die in guten Zeiten Geld beiseitelegten, doch 1 9 39 war die Lage selbst für ihn schwer geworden.
Meine Mutter hatte immer mit meinem Vater zusammengearbeitet, wenn auch selten vorn im Verkaufsraum. Damals erwarteten die Männer – und unsere Kundschaft bestand fast ausschließlich aus Männern –, von einem anderen Mann bedient zu werden, sowohl beim Aussuchen eines Anzugs als auch bei den Anproben. Meine Mutter allerdings ließ immer die Tür zum Lagerraum offen stehen, sodass sie einen perfekten Blick auf die Kunden hatte. Ich muss dazu sagen, dass sie in ihrem Handwerk ein Genie war. Mein Vater zupfte und zog und markierte den Stoff an den richtigen Stellen, aber meine Mutter erkannte mit einem einzigen Blick, ob sie die Markierungen meines Vaters noch anpassen musste. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Kunden in dem fertigen Anzug, wusste genau, wo jede Falte und jeder Saum verlaufen würde. Mein Vater hatte das erkannt – genau deshalb positionierte er den Spiegel so, dass sie ihn sehen konnte. Mancher Mann hätte sich von einer solchen Frau vielleicht bedroht gefühlt, aber meinen Vater machte sie stolz. Eine seiner Lebensregeln lautete, dass es gut war, eine Frau zu heiraten, die schlauer war als man selbst. »So habe ich es gemacht«, sagte er immer zu mir, »und du solltest das auch tun. Warum das ganze Denken selbst erledigen, stimmt’s?«
Meine Mutter, das muss ich zugeben, war wirklich schlauer als mein Vater. Zwar konnte sie nicht gut kochen – sie hätte eigentlich Küchenverbot bekommen müssen –, doch sie beherrschte vier Sprachen und vermochte Dostojewski auf Russisch zu zitieren; sie spielte sehr gut Klavier und hatte die Wiener Universität zu einer Zeit besucht, als weibliche Studenten noch selten waren. Mein Vater hingegen war nie
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