Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
Land nicht. Ich hatte das Gefühl, nicht hierherzugehören. Trotz des Krieges hatte ich das Bedürfnis, nach Hause zu fahren. Ich wollte meiner Familie helfen. Wir machten uns große Sorgen um sie.«
Ich sehe sie den Kopf zum Fenster drehen. Sie wird still, und ich weiß, dass sie an ihre Großeltern, ihre Tan ten und Onkel, Cousins und Cousinen denkt. An dem Abend, bevor Ruth und ihre Eltern in die Schweiz aufbrachen, hatten sich Dutzende von Verwandten zu einem Abschiedsessen versammelt. Es gab bange Abschiedsworte und das Versprechen, in Verbindung zu bleiben, und obwohl manche sich für sie freuten, glaubten fast alle, dass Ruths Vater nicht nur überreagierte, sondern regelrecht dumm war, alles für eine ungewisse Zukunft aufzugeben. Ein paar steckten ihm allerdings ein paar Goldmünzen zu, und in den sechs Wochen, die ihre Reise nach North Carolina dauerte, waren es diese Münzen, die ihnen Unterkunft und Verpflegung verschafften. Ihre gesamte Verwandtschaft war in Wien geblieben. Im Sommer 1 940 trugen sie bereits den Davidstern und durften größtenteils nicht mehr arbeiten. Doch da war es zu spät, um zu fliehen.
Meine Mutter erzählte mir von Ruths Besuchen bei ihr und von ihren Sorgen. Wie Ruth hatte auch meine Mutter noch Verwandte in Wien, aber wie so viele ahnte sie nicht, was passieren oder wie schrecklich es letzten Endes werden würde.
»Dein Vater hat damals Möbel gebaut?«
»Ja«, sagt Ruth. »Keine der Universitäten wollte ihn einstellen, also tat er, was nötig war, um uns zu ernähren. Aber es war schwer für ihn. Er war für solche Arbeit nicht geschaffen. Anfangs kam er immer völlig erschöpft nach Hause, mit Sägemehl in den Haaren und Pflaster auf den Händen, und dann schlief er sofort im Sessel ein. Aber er hat sich nie beklagt. Er wusste, dass wir großes Glück gehabt hatten. Wenn er aufwachte, ging er duschen und zog dann zum Abendessen seinen Anzug an. Das war seine Art, sich selbst daran zu erinnern, was für ein Mann er einmal gewesen war. Und bei Tisch haben wir immer lebhafte Gespräche geführt. Er fragte mich, was ich tagsüber in der Schule gelernt hatte, und hörte mir genau zu, wenn ich antwortete. Dann leitete er mich an, Dinge neu und anders zu betrachten. »Warum ist das wohl so?«, fragte er, oder: »Hast du dir dieses und jenes schon einmal überlegt?« Natürlich durchschaute ich, was er da machte. Einmal Lehrer, immer Lehrer, und er war gut darin, weshalb er auch nach dem Krieg wieder unterrichten konnte. Er hat mir beigebracht, eigenständig zu denken und meinen Instinkten zu vertrauen, so wie er es auch all seinen Studenten beigebracht hat.«
Ich betrachte sie und denke darüber nach, wie bedeut sam es war, dass Ruth später ebenfalls Lehrerin wurde, und erneut schweifen meine Gedanken zu Daniel McCallum ab. »Und nebenbei hat dein Vater dich alles über Kunst gelehrt.«
»Ja«, sagt sie verschmitzt. »Das auch.«
KAPITEL 2
Vier Monate vorher
Sophia
»Komm doch mit«, bettelte Marcia. »Bitte, bitte. Wir sind dreizehn oder vierzehn Leute. Und so weit ist es auch wie der nicht. Nach McLeansville braucht man keine Stunde, und du weißt, dass es im Auto total lustig wird.«
Sophia zog ein skeptisches Gesicht. Sie saß auf ihrem Bett, wo sie halbherzig ihre Mitschrift aus Geschichte der Renaissance durchging. »Ich weiß nicht ... ein Rodeo? «
»Sag das nicht so.« Marcia stand vor dem Spiegel und schob einen schwarzen Cowboyhut auf dem Kopf herum, kippte ihn mal so, mal so. Mit Marcia Peak teilte Sophia sich schon seit dem zweiten College-Jahr das Zimmer, und sie war mit Abstand ihre beste Freundin auf dem Campus. »Ers tens ist es kein Rodeo, sondern Bullenreiten . Und zweitens geht es darum überhaupt nicht. Es geht darum, mal einen Abend hier rauszukommen und was mit mir und den Mädels zu unternehmen. Hinterher ist noch eine Party, es werden Bars in einer großen, altmodischen Scheune aufgebaut ... eine Band spielt, es wird getanzt, und ich schwöre dir, dass du nie wieder so viele süße Kerle auf einem Fleck findest.«
Sophia spähte über den Rand ihres Notizblocks. »Süße Kerle zu finden ist so ungefähr das Letzte, was ich momentan brauche.«
Marcia verdrehte die Augen. »Der springende Punkt ist doch, dass du mal aus dem Haus musst. Es ist schon Oktober. Seit zwei Monaten läuft der Unterricht wieder, und du musst aufhören, Trübsal zu blasen.«
»Ich blase keine Trübsal«, sagte Sophia. »Ich ... hab es nur satt.«
»Du meinst, du
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