Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
anwachsen sollte. Und im Anschluss kehrten wir an den Ort zurück, an dem alles begonnen hatte, fast als hätten wir keine andere Wahl.
Ich weiß nicht mehr genau, wann uns zum ersten Mal die Gerüchte zu Ohren kamen, dass das Black Mountain College geschlossen werden sollte – 1 9 52 oder 1 9 53, glaube ich –, doch wie die dortigen Künstler und Dozenten, die wir mittlerweile als enge Freunde betrachteten, wollten wir dem Gerede keinen Glauben schenken. 1 9 56 jedoch bestätigten sich die Befürchtungen, und als Ruth davon erfuhr, weinte sie, weil sie begriff, dass für uns eine Ära zu Ende ging. Wieder reisten wir im Sommer durch den Nordosten, und obwohl ich wusste, dass es nicht mehr das Gleiche wäre, verbrachten wir unseren Hochzeitstag in Asheville. Wie immer fuhren wir zum College, doch als wir am Ufer des Lake Eden standen und die nun leeren Gebäude betrachteten, fragte ich mich unwillkürlich, ob unser Idyll dort nur ein Traum gewesen war.
Langsam spazierten wir zu der Stelle, an der damals jene ersten sechs Bilder aufgebaut gewesen waren. Wir standen an dem stillen blauen Wasser, und ich dachte, wie passend der Name des Sees, Lake Eden, doch war. Für uns war dieses Fleckchen immer ein Paradies gewesen. Gleichgültig, wohin unser Leben uns führen würde, diesen Ort würden wir niemals vergessen. Und ich überraschte Ruth mit einem Brief, den ich am Abend vorher geschrieben hatte. Es war mein erster Brief an sie seit dem Krieg, und nachdem sie ihn gelesen hatte, nahm sie mich in die Arme. In dem Moment wusste ich, was ich zu tun hatte, um Black Mountain in unseren Herzen lebendig zu halten. Im folgenden Jahr, an unserem elften Hochzeitstag, schrieb ich ihr erneut einen Brief, den sie unter ebendiesen Bäumen am Ufer des Lake Eden las. Und damit begann eine neue Tradition in unserer Ehe.
Insgesamt hat Ruth fünfundvierzig Briefe erhalten, und sie hat jeden davon aufgehoben. Sie liegen in einem Kästchen auf ihrer Kommode. Manchmal ertappte ich sie dabei, dass sie sie las, und ihr Lächeln verriet mir, dass sie sich gerade an etwas erinnerte, was sie schon längst verges sen hatte. Diese Briefe waren für sie zu einer Art Tagebuch geworden, und je älter sie wurde, desto häufiger holte sie sie heraus. Manchmal las sie alle an einem einzigen Nachmittag.
Die Briefe schienen ihr Frieden zu schenken, und ich glaube, deshalb beschloss sie sehr viel später, auch mir zu schreiben. Den Brief fand ich erst lange, nachdem sie fort war, aber in vielerlei Hinsicht hat er mir das Leben gerettet. Sie wusste, ich würde ihn brauchen, denn sie kannte mich besser als ich mich selbst.
Doch Ruth hat nicht alle meine Briefe an sie gelesen, denn die letzten entstanden nach ihrem Tod. Auch wenn sie eigentlich für sie geschrieben waren, so waren sie gleichzeitig auch für mich, und ich stellte ein zweites Kästchen neben ihres. Darin befinden sich mit zittriger Hand verfasste Briefe, die die Spuren meiner Tränen aufweisen. Sie wurden anlässlich unserer weiteren Hochzeitstage geschrieben. Manchmal spiele ich mit dem Ge danken, sie zu lesen, genau wie Ruth früher, aber es schmerzt mich zu sehr. Deshalb halte ich die Umschläge nur in der Hand, und wenn ich es nicht mehr aushalte, wandere ich durchs Haus und betrachte die Bilder. Und manchmal stelle ich mir dann vor, dass Ruth mich besuchen gekommen ist, genau wie sie hier ins Auto gekommen ist, weil sie weiß, dass ich selbst jetzt noch nicht ohne sie leben kann.
» D u kannst ohne mich leben«, sagt Ruth zu mir.
Draußen hat sich der Wind gelegt, und die Dunkelheit wirkt weniger trüb. Das ist Mondlicht, denke ich, das Wetter klart endlich auf. Spätestens morgen Abend, falls ich so lange durchhalte, wird es wärmer, und am Dienstag schmilzt der Schnee. Das gibt mir kurz Hoffnung, die aber genauso schnell wieder schwindet. So lange halte ich nicht durch.
Ich bin schwach, so schwach, dass es mir schon schwerfällt, Ruth scharf zu sehen. Das Wageninnere dreht sich, und ich möchte nach ihrer Hand greifen, weiß aber, dass das unmöglich ist. Stattdessen versuche ich mich zu erinnern, wie sie sich anfühlte, doch es will mir nicht recht gelingen.
»Hörst du mir zu?«, fragt sie.
Ich schließe die Augen, damit der Schwindel aufhört, aber er wird nur stärker, bunte Spiralen bersten hinter meinen Lidern.
»Ja«, flüstere ich endlich, ein trockenes Krächzen in der Vulkanasche meiner Kehle. Mein Durst peinigt mich. Seit über einem Tag habe ich kein Wasser zu
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