Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
so. Ich frage mich oft, ob ich überhaupt mit dieser Journalistin hätte sprechen sollen. Wahrscheinlich nicht, aber als diese Janice oder Janet oder wie sie hieß unangekündigt vor meiner Tür auftauchte, erinnerten ihre dunklen Haare und die intelligenten Augen mich an Ruth, und ehe ich michs versah, stand sie im Wohnzimmer. Und ging sechs Stunden lang nicht mehr fort. Woher sie von der Sammlung erfahren hat, weiß ich bis heute nicht. Vermutlich von einem Kunsthändler im Norden, die können schlimmer tratschen als Schulmädchen. Trotzdem gebe ich der Journal istin nicht die alleinige Schuld an dem, was danach folgte. Das ist nun mal ihr Job, und ich hätte sie bitten können, zu gehen. Stattdessen habe ich ihre Fragen beantwortet und ihr erlaubt, Fotos zu machen. Als sie weg war, habe ich sie sofort aus meinem Gedächtnis gestrichen. Ein paar Monate später dann rief ein junger Mann mit einer Piepsstimme an, der sich selbst als Fakten-Checker für die Zeitschrift bezeichnete, um Dinge zu überprüfen, die ich gesagt hatte. Naiv beantwortete ich ihm seine Fragen, und einige Wochen danach erhielt ich mit der Post ein kleines Päckchen. Die Journalistin war immerhin so aufmerksam gewesen, mir ein Exemplar der Ausgabe zu schicken, in dem der Artikel erschienen war. Ich war natürlich wütend über den Text, und nachdem ich ihn gelesen hatte, warf ich die Zeitschrift fort. Später, als ich mich wieder beruhigt hatte, holte ich sie dann aus dem Mülleimer und las den Artikel ein zweites Mal. Rück blickend ist mir klar, dass sie nichts dafür konnte, nicht verstanden zu haben, was ich ihr zu erklären versuchte. In ihrem Kopf war die Sammlung nun mal die ganze Geschichte.
Das ist sechs Jahre her, und es hat mein Leben auf den Kopf gestellt. Gitter wurden vor die Fenster montiert, und ein Zaun wurde um den Garten gezogen. Ich habe eine Alarmanlage installieren lassen, und die Polizei fährt seit dem demonstrativ mindestens zweimal pro Tag an meinem Haus vorbei. Ich wurde mit Telefonanrufen über schwemmt. Reporter. Produzenten. Ein Drehbuchautor, der versprach, die Geschichte auf die Leinwand zu brin gen. Drei oder vier Anwälte. Zwei Menschen, die be haupteten, Verwandte zu sein, entfernte Cousins von Ruths Seite der Familie. Fremde, die vom Glück verlassen waren und auf eine kleine Spende hofften. Am Ende stöpselte ich das Telefon einfach aus, denn alle – einschließlich der Journalistin – betrachteten die Kunst nur unter dem finanziellen Aspekt.
Kein Einziger von ihnen begriff, dass es darum gar nicht ging. Es ging um die Erinnerungen, die daran geknüpft waren. Wo Ruth die Briefe besaß, die ich ihr geschrieben hatte, besaß ich die Bilder und die Erinnerungen. Wenn ich die de Koonings und die Rauschenbergs und die Warhols sehe, denke ich daran, wie Ruth mich am See umarmte; wenn ich den Jackson Pollock betrachte, erlebe ich noch einmal unsere erste Fahrt nach New York 1 9 50. Unsere Reise war damals schon halb vorbei, und aus einer Laune heraus fuhren wir nach Springs, ein Dorf in der Nähe von East Hampton auf Long Island. Es war ein herrlicher Sommertag, und Ruth trug ein gelbes Kleid. Damals war sie achtundzwanzig und wurde von Tag zu Tag schöner, was auch Pollock übrigens nicht entging. Ich bin davon überzeugt, dass ihr elegantes Auftreten ihn dazu bewegte, zwei Fremde in sein Atelier zu lassen. Es erklärt auch, warum er Ruth schließlich gestattete, ein Gemälde zu kaufen, das er erst kürzlich fertiggestellt hatte, etwas, was bei ihm nur selten vorkam. Später an jenem Nachmittag, auf dem Rückweg in die Stadt, hielten Ruth und ich an einem kleinen Café in Water Mill. Es war ein bezauberndes Lokal mit abgewetztem Holzfußboden und sonnendurchfluteten Räumen, und der Inhaber führte uns zu einem wackeligen Tisch auf der Terrasse. Ruth bestellte damals Weißwein, etwas Leichtes, Liebliches, und wir nippten an unseren Gläsern, während wir auf den Sund blickten. Es ging eine zarte Brise, und es war warm, und wenn wir hin und wieder ein Boot in der Ferne vorbeifahren sahen, überlegten wir laut, wohin es wohl wollte.
Neben diesem Bild hängt ein Werk von Jasper Johns. Das haben wir 1 952 gekauft, in dem Sommer, als Ruth ihr Haar ganz lang trug. Die ersten Fältchen bildeten sich in ihren Augenwinkeln und gaben ihrem Gesicht etwas Frauliches. Sie und ich hatten frühmorgens auf dem Empire State Building gestanden, und später, in der Stille des Hotelzimmers, liebten wir uns stundenlang, bis sie
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