Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
Fenster nicht aufgeht, aber trotzdem recke ich den Finger. Ein Urinstinkt treibt mich an. Ich hoffe, die Batterie funktioniert noch. Vorher ging sie noch, rede ich mir gut zu. Nach dem Unfall ging sie noch. Endlich findet mein Finger den Knopf des Fensterhebers, und ich drücke ihn nach vorn.
Und wundersamerweise dringt plötzlich eisige Luft in den Wagen. Die Kälte ist brutal, und ein Klecks Schnee landet auf meinem Handrücken. So nahe jetzt, nur ist mein Gesicht in die falsche Richtung gedreht. Ich muss den Kopf heben. Die Aufgabe kommt mir undurchführbar vor, doch das Wasser ruft nach mir, und es ist unmöglich, seinem Ruf nicht zu folgen.
Sobald ich den Kopf bewege, explodieren mein Arm und meine Schulter und das Schlüsselbein. Ich sehe nur Weiß und dann nur Schwarz, aber ich mache weiter. Mein Gesicht fühlt sich geschwollen an, und einen Moment lang glaube ich nicht, dass ich es schaffe. Ich möchte den Kopf wieder ablegen. Ich möchte, dass der Schmerz aufhört, doch meine linke Hand kommt bereits auf mich zu. Der Schnee schmilzt, und ich spüre das Wasser tropfen, und meine Hand schiebt sich weiter.
Und dann, als ich kurz davor bin, aufzugeben, erreicht die Hand meinen Mund. Der Schnee ist wundervoll, mein Gaumen erwacht zum Leben. Ich fühle die Feuchtigkeit auf der Zunge. Sie ist kalt und beißend und himmlisch, und die einzelnen Tropfen rinnen meine Kehle hinunter. Das Wunder ermutigt mich, und ich greife nach einer weiteren Handvoll Schnee. Beim Schlucken verschwinden die Nadeln. Mein Hals ist plötzlich jung wie Ruth, und obwohl es im Auto eisig ist, spüre ich die Kälte nicht. Ich hole mir noch mehr Schnee und noch mehr, und die Erschöpfung, die ich noch vor einer Minute empfunden habe, ist wie weggeblasen. Ich bin müde und schwach, aber im Vergleich zu vorher kommt es mir absolut erträglich vor. Als ich mich Ruth zuwende, sehe ich sie klar. Sie ist Mitte dreißig, das Alter, in dem sie am allerschönsten war, und sie leuchtet.
»Danke«, sage ich.
»Keine Ursache.« Sie zuckt die Achseln. »Aber mach lieber das Fenster wieder zu. Sonst wird es zu kalt.«
Ich tue, was sie sagt, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Ich liebe dich, Ruth«, krächze ich.
»Ich weiß.« Ihr Tonfall ist zärtlich. »Deshalb bin ich gekommen.«
D as Wasser hat mich wiederhergestellt, was noch vor wenigen Stunden unmöglich schien. Psychisch wiederhergestellt, denn mein Körper ist immer noch in einem furchtbaren Zustand, und ich traue mich nicht, mich zu rühren. Ruth wirkt erleichtert, dass ich mich etwas erholt habe. Sie sitzt still da und lauscht dem Geplapper meiner Gedanken. Hauptsächlich bin ich mit der Frage beschäftigt, ob mich jemals jemand finden wird ...
Denn in dieser Welt bin ich ja mehr oder weniger unsichtbar geworden. Selbst beim Tanken – was dazu geführt hat, dass ich mich verirrte, glaube ich jetzt – hat die Frau an der Kasse an mir vorbei einen jungen Mann in Jeans angesehen. Ich bin das geworden, wovor die Jungen Angst haben, einer der vielen namenlosen Alten, ein greiser und gebrochener Mann, der dieser Welt nichts mehr zu bieten hat.
Meine Tage sind unbedeutend, sie bestehen aus schlichten Momenten und noch schlichteren Freuden. Ich esse und schlafe und denke an Ruth. Ich wandere durchs Haus und betrachte die Bilder, und morgens füttere ich die Vögel, die sich in meinem Garten versammeln. Darüber be schwert sich mein Nachbar. Für ihn sind die Vögel eine von Krankheiten verpestete Plage. Da mag er nicht unrecht haben, aber dafür hat er einen herrlichen Ahorn gefällt, der auf unseren beiden Grundstücken wuchs, einfach nur, weil er keine Lust mehr hatte, das Laub zusammenzurechen. Deshalb ist seine Einschätzung meiner Ansicht nach nicht unbedingt vertrauenswürdig. Ich jedenfalls mag die Vögel. Ich mag das sanfte Gurren, und ich freue mich daran, ihre Köpfchen auf und ab wippen zu sehen, wenn sie die Körner aufpicken, die ich für sie ausstreue.
Ich weiß, dass die meisten Leute mich für einen Einsied ler halten. So hat die Journalistin mich beschrieben. So sehr ich das Wort und was es beinhaltet verabscheue, es liegt natürlich ein Körnchen Wahrheit darin. Ich bin seit Jahren Witwer, ein Mann ohne Kinder, und soweit ich weiß, habe ich keine lebenden Verwandten. Meine Freunde sind, abgesehen von meinem Anwalt Howie Sanders, schon lange tot, und seit dem Medienansturm, den der Artikel im New Yorker ausgelöst hat, verlasse ich nur selten das Haus. Es ist einfacher
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