Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
unserem kleinen Küchentisch sitzen und über neue Methoden grübeln, wie sie ihre Schüler motivieren konnte.
Doch so überlastet sie auch während dieses ersten Halbjahrs war, wurde doch deutlich, dass das Unterrichten der Kinder nicht nur ihre Berufung, sondern ihre wahre Leidenschaft war, mehr noch als das Sammeln von Kunstwerken. Sie widmete sich ihrer Arbeit mit einer Unbeirrbarkeit, die mich überraschte. Natürlich sollten ihre Schüler etwas lernen, aber mehr noch wollte Ruth, dass sie Bildung ebenso wertschätzten wie sie selbst. Beim Abendessen sprach sie von ihnen und berichtete von den »kleinen Siegen«, die sie tagelang zum Lächeln bringen konnten. Ira, sagte sie, einer meiner Schüler hat heute einen kleinen Sieg errungen . Und dann erzählte sie mir genau, was passiert war, beispielsweise, dass ein Kind unerwartet einem anderen einen Bleistift geliehen hatte oder welch große Fortschritte eines im Schreiben gemacht hatte oder wie stolz ein Mädchen war, das zum ersten Mal ein Buch gelesen hatte. Sie merkte, wenn ein Kind traurig war, und sprach mit ihm wie eine Mutter. Als sie erfuhr, dass eine ganze Reihe von ihnen in derart ärmlichen Verhältnissen lebten, dass sie sich nicht einmal etwas zu essen für die Mittagspause mitbringen konnten, fing sie an, morgens zusätzliche Brote zu schmieren. Und im Laufe der Zeit reagierten die Schüler auf ihre fürsorgliche Art wie junge Pflanzen auf Sonne und Wasser.
Ruth hatte sich vorher Sorgen darüber gemacht, ob die Kinder sie akzeptieren würden. Weil sie als Jüdin in einer christlichen Schule arbeitete und weil sie aus Wien kam und einen deutschen Akzent hatte, befürchtete sie, von ihnen als Fremde betrachtet zu werden. Das wusste ich spätestens seit einem Tag im Dezember, an dem ich sie abends schluchzend in der Küche vorfand. Ihre Augen waren rot und geschwollen, und sie machte mir Angst. Ich malte mir aus, dass etwas Schreckliches vorgefallen sein musste. Dann erst bemerkte ich, dass auf dem Tisch diverse selbst gebastelte Gegenstände lagen. Ruth erzählte, ihre Schü ler – jeder einzelne – hätten ihr Geschenke zum Chanuk ka-Fest mitgebracht. Wie sie auf die Idee gekom men waren, erfuhr sie nie genau, denn sie hatte ihnen nichts davon erzählt. Es war auch nicht klar, ob die Kinder die Bedeutung dieses Festes überhaupt kannten. Einmal hörte sie zufällig mit, wie ein Schüler einem anderen erklärte, mit Chanukka feierten »die Juden die Geburt von Jesus«, aber dass das nicht stimmte, war unwichtig im Vergleich zu dem, was die Kinder für sie getan hatten. Die meisten Geschenke waren einfacher Art, bemalte Steine, selbst gebastelte Karten, ein Armband aus Muscheln, doch in jedem steckte Liebe. In jenem Moment, so glaube ich seit dem, wurde Greensboro, North Carolina, für Ruth endlich ihre neue Heimat.
T rotz Ruths Arbeitspensum konnten wir nach und nach unser Haus einrichten. Im ersten Winter verbrachten wir viele Wochenenden damit, Antiquitäten zu kaufen. Genau wie sie ein Auge für Kunst hatte, besaß Ruth auch ein Talent, die richtigen Möbel auszusuchen, die unser Heim nicht nur schön, sondern einladend machten.
Im folgenden Sommer begannen wir mit den Renovierungsarbeiten. Das Haus brauchte ein neues Dach, und Küche und Badezimmer waren nicht nach Ruths Geschmack. Die Fußböden mussten abgeschliffen und einige Fenster ausgetauscht werden. Wir hatten uns beim Kauf entschlo ssen, damit bis zum Sommer zu warten, weil Ruth dann Zeit hatte, die Handwerker zu beaufsichtigen.
Ich war erleichtert, dass sie bereit war, diese Verantwortung zu übernehmen. Meine Eltern hatten ihre Arbeitszeit mittlerweile noch weiter reduziert, gleichzeitig war unsere Kundschaft angewachsen. Wie mein Vater während des Krieges mietete ich nun das Ladenlokal neben unserem an, vergrößerte das Geschäft und stellte drei Verkäufer ein. Dennoch hatte ich Mühe, die Arbeit zu bewältigen, und hatte wie Ruth oft bis spätabends zu tun.
Die Renovierung des Hauses dauerte länger und kostete mehr als erwartet und war weit lästiger, als wir beide es uns vorgestellt hatten. Doch die Veränderungen – manche dezent, andere einschneidend – machten das Haus endlich wirklich zu unserem, und ich wohne dort inzwischen seit über fünfundsechzig Jahren. Im Gegensatz zu mir hält es sich ganz anständig. Das Wasser fließt reibungslos durch die Rohre, die Schranktüren klemmen nicht, und die Fußböden sind so glatt wie ein Billardtisch, wohingegen ich mich
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