Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
mir genommen, und das Verlangen danach zermürbt mich, es steigert sich mit jedem mühsamen Atemzug.
»Die Wasserflasche ist hier«, sagt Ruth plötzlich. »Ich glaube, sie liegt auf dem Boden bei meinen Füßen.«
Ihre Stimme ist weich und klangvoll, wie eine Melodie, und ich halte mich daran fest, um nicht an das Naheliegende denken zu müssen. »Woher weißt du das?«
»Sicher bin ich mir nicht. Aber wo soll sie sonst sein? Auf dem Sitz liegt sie nicht.«
Sie hat recht, denke ich. Wahrscheinlich ist sie auf dem Boden, aber ich kann sie unmöglich erreichen.
»Ist ja auch egal«, sage ich schließlich verzweifelt.
»Nein, ist es nicht. Du musst sie unbedingt finden.«
»Kann ich nicht. Mir fehlt die Kraft.«
Darüber denkt sie offenbar nach, denn sie bleibt eine Weile lang still. Ich glaube zuerst, ihren Atem zu hören, bis ich begreife, dass ich selbst zu keuchen begonnen habe. Der Klumpen in meinem Hals bildet sich nach.
»Erinnerst du dich noch an den Tornado?«, fragt sie unvermittelt. In ihrer Stimme liegt etwas Flehendes, und ich versuche, mich zu konzentrieren. Der Tornado. Im ersten Moment sagt mir das gar nichts, doch allmählich nimmt die Erinnerung Gestalt und Bedeutung an.
Ich war damals seit einer Stunde von der Arbeit zu Hause, als urplötzlich der Himmel ein unheilvolles Graugrün annahm. Ruth ging vor die Tür, um zu sehen, was los war, und ich packte ihre Hand und zerrte sie zurück in die Mitte des Hauses. Es war der erste Tornado, den sie erlebte, und unser Grundstück blieb zwar unversehrt, doch etwas weiter die Straße hinunter stürzte ein Baum um und zerquetschte das Auto eines Nachbarn.
»Das war 1 957«, sage ich. »Im April.«
»Genau. Da ist es passiert. Es überrascht mich nicht, dass du das noch weißt. Das Wetter vergisst du nie, auch nach so langer Zeit nicht.«
»Ich erinnere mich, weil ich Angst hatte.«
»Aber jetzt weißt du auch immer über das Wetter Bescheid.«
»Weil ich den Weather Channel sehe.«
»Das ist gut. Es gibt viele gute Berichte auf diesem Sender. Da lernt man viel.«
»Warum reden wir darüber?«
»Weil du dich an etwas erinnern musst«, sagt sie mit drängendem Tonfall. »Da war noch etwas anderes.«
Ich verstehe nicht, was sie meint, und in meiner Erschöpfung stelle ich fest, dass es mir auf einmal egal ist. Das Keuchen wird schlimmer, und ich schließe erneut die Augen und treibe auf einem Meer aus dunklen, wogenden Wellen. Auf einen fernen Horizont zu, fort von hier. Fort von ihr.
»Du hast vor Kurzem etwas Interessantes gesehen!«, schreit sie.
Und immer noch treibe ich dahin. Neben dem Auto. Jetzt fliege ich. Unter dem Mond und den Sternen. Die Nacht klart auf, der Wind hat sich gelegt, und ich bin so müde, dass ich für immer schlafen werde. Meine Gliedmaßen entspannen sich, und ich werde ganz leicht.
»Ira!«, ruft sie mit wachsender Panik. »Du musst dich an etwas erinnern! Es wurde im Wettersender gezeigt!«
Ihre Stimme klingt weit entfernt, beinahe wie ein Echo.
»Ein Mann in Schweden! Er hatte nichts zu essen und nichts zu trinken.«
Obwohl ich sie kaum hören kann, dringen ihre Worte zu mir durch. Ja, denke ich, und die Erinnerung nimmt Gestalt an. Umeå . Nördlicher Polarkreis . Vierundsechzig Tage .
»Er hat überlebt!«, brüllt sie und legt ihre Hand auf mein Bein.
Und in dem Augenblick höre ich auf zu treiben. Als ich die Augen aufschlage, bin ich wieder im Auto.
In einem Auto im Schnee begraben. Kein Essen, kein Wasser.
Kein Wasser ...
Kein Wasser ...
Ruth beugt sich zu mir, so dicht, dass ich den zarten Rosenduft ihres Parfüms riechen kann.
»Richtig, Ira.« Ihre Miene ist ernst. »Er hatte kein Wasser. Wie hat er dennoch überlebt? Du musst dich einfach erinnern!«
Ich blinzle, und meine Augen fühlen sich schuppig an, wie die eines Reptils.
»Schnee«, sage ich. »Er hat den Schnee gegessen.«
Sie senkt ihren Blick nicht, und ich weiß, sie will mich zwingen, sie weiter anzusehen. »Hier gibt es auch Schnee. Gleich draußen vor deinem Fenster.«
Bei diesen Worten bäumt sich trotz meiner Schwäche etwas in meinem Inneren auf, und obwohl ich Angst davor habe, bewege ich langsam den linken Arm. Zentimeter um Zentimeter schiebe ich ihn auf dem Oberschenkel nach vorn und hebe ihn dann auf die Armstütze. Die Anstrengung ist gigantisch, und ich muss für einen Moment ver schnaufen. Aber Ruth hat recht. Ganz in der Nähe ist Was ser, und ich strecke den Zeigefinger zum Knopf aus. Ich habe Angst, dass das
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