Kein Schatten ohne Licht
Worte.
Gregor hatte ihren Schlag ohne mit der Wimper zu zucken eingesteckt, was Melica mehr denn je bewies, dass er weitaus stärker war als er aussah. Noch immer lächelte er ihr erwartungsvoll entgegen. Melica wollte ihn anschreien, ihn verbrennen, ihn durch den Speisesaal schleudern... Ihr fielen so viele Wege ein, das Oberhaupt der Schattenkrieger leiden zu lassen. Sie entschied sich für keine dieser Möglichkeiten, sondern knickte ein, schloss die Augen und umarmte ihn so fest sie nur konnte.
„ Ich hasse Sie so sehr“, flüsterte sie. Als sie bemerkte, dass er ihre Umarmung nicht erwiderte, trat sie einen Schritt zurück.
Sonderlich weit kam sie allerdings nicht, denn kaum hatte sie sich von Gregor gelöst, wurde sie auch schon herumgewirbelt und in zwei weit ausgestreckte Arme gezogen. „Herzlichen Glückwunsch, du Zwerg!“, rief Tizian, drehte sie einmal im Kreis und reichte sie an Jonathan weiter, der sie mit einem verlegenen Lächeln kurz drückte. „Du hättest etwas sagen sollen“, sagte er halb vorwurfsvoll halb lachend. Dann verdüsterte sich sein Gesichtsausdruck jedoch. „Was ist los?“, fragte er besorgt.
Ein ungläubiges Lachen löste sich von Melicas Lippen. Konnte es tatsächlich sein, dass ausgerechnet Jonathan der Erste war, der bemerkte, dass es ihr alles andere als gut ging?
„ Alles, alles Liebe wünsch ich dir!“, kreischte da Yvonne direkt in ihr Ohr und sprang auf ihren Rücken. Melica schloss die Augen, taumelte. Dann schüttelte sie das Gewicht mühelos ab, begann zu lachen. Immer und immer lauter. Es war befreiend. Irgendwie zumindest, denn auf irgendeine wunderbare Art und Weise schnitt es sie von ihrer Außenwelt ab und ließ ihr Zeit, ihre verwirrten Gedanken in Ordnung zu bringen. Was zur Hölle passierte hier? Das alles musste ein einziger, riesengroßer Alptraum sein! Vor lauter Lachen begann ihr Hals zu schmerzen, doch Melica dachte gar nicht daran, aufzuhören. Sie würde doch ohnehin bald aufwachen, wohl behütet in ihrem Bett, weit weg von dieser Hölle. Das hier war nicht echt, konnte nicht echt sein!
„ Gregor hat uns hergebracht.“ Liv tauchte plötzlich neben ihr auf. „Er meinte, wir wären nicht länger sicher bei uns zu Hause.“
Melica verschluckte sich und begann zu husten. Und genauso wie vor wenigen Sekunden mit ihrem Lachen, fiel es ihr schwer, wieder damit aufzuhören. Zu schwer.
Plötzlich packte sie jemand am Arm und schleifte sie äußerst unsanft in Richtung Ecke.
Melica dachte gar nicht daran, sich zu wehren. Warum auch? Solange sie niemand daran hinderte, sich die Seele aus dem Leib zu husten, konnten die anderen mit ihr anstellen, was sie wollten. „Lass mich mit ihr allein!“ Melica nahm Isaks Stimme nur wie durch einen Schleier wahr. Im ersten Moment war sie davon überzeugt, dass er seine Worte an sie richtete, weshalb sie schon nicken wollte.
Dann jedoch bemerkte sie, dass er jemanden fixierte, der sich irgendwo in ihrem Rücken befinden musste und entspannte sich wieder. Isak baute sich direkt vor ihr auf und Melica musste schlucken. Warum war ihr denn noch nie aufgefallen, wie groß und gefährlich der Mann aussehen konnte, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, für das Casting eines Zahnpastawerbespots zu trainieren?
Isak musterte sie eindringlich. „Was ist geschehen?“
Melica zögerte. Sie musste eine Frage stellen, doch gleichzeitig wollte sie die Antwort nicht hören. Angst und Neugier lieferten sich einen erbitterten Kampf in ihrem Kopf und eroberten ihren ganzen Körper. Schlussendlich erwies sich die Neugier als unnachgiebiger, streckte die Angst zu Boden. Und Melica hob langsam den Arm und deutete leidenschaftslos auf den mit bunten Luftballons dekorierten Saal. „Das hier ist kein Traum, nicht wahr?“
Deutlich sah sie, dass etwas in Isaks Gesicht zusammenfiel. Melica war wie paralysiert, als sie einige vorsichtige Schritte auf die Wand neben sich zutat, sich anlehnte und sich hinuntergleiten ließ. Mühsam zog sie ihre Beine so dicht wie möglich an ihren Körper, umklammerte sie mit ihren Armen und schloss die Augen. Erst dann erlaubte sie sich zu weinen. Siedend heiße Tränen rannen sturzbachartig ihre Wangen hinab und tropften nahezu lautlos zu Boden. Melica war vollständig in ihrer Trauer verloren. Sie reagierte nicht einmal besonders, als ihr ein Arm um die Schulter gelegt und sie sanft an einen warmen Körper gezogen wurde.
„ Ist schon gut, Kleine.“ Isaks leise Worte strichen ebenso
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