Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One
den Nachschlagewerken fand ich eine Bibliothekarin, bei der ich mich nach einem Internet-Terminal erkundigte.
»Haben Sie einen Ausweis?«, fragte sie.
Hatte ich. Sie sah ihn an. »Sie müssen Ihren Wohnsitz hier im Landkreis haben.«
»Bitte«, flehte ich. »Es ist sehr wichtig.«
Ich dachte, sie würde nicht nachgeben, aber sie ließ sich erweichen. »Wie lange brauchen Sie denn ungefähr?«
»Höchstens ein paar Minuten.«
»Das …«, sie zeigte auf einen Computer hinter mir, »… ist unser Express-Terminal. Das kann jeder für zehn Minuten benutzen.«
Ich bedankte mich und ging hinüber. Über Yahoo! fand ich die Website des New Jersey Journal , der größten Zeitung von Bergen und Passaic County. Das Erscheinungsdatum kannte ich genau. Der zwölfte Januar vor zwölf Jahren. Ich ging ins Search Archive- Feld und gab die Daten ein.
Die Website enthielt nur die Artikel der letzten sechs Jahre.
Verdammt.
Ich wandte mich wieder an die Bibliothekarin. »Ich suche einen zwölf Jahre alten Artikel aus dem New Jersey Journal«, sagte ich.
»Im Internet-Archiv haben Sie ihn nicht gefunden?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Mikrofiche«, verkündete sie und klatschte beim Aufstehen die Handflächen auf die Seitenlehnen ihres Stuhls. »Welcher Monat?«
»Januar.«
Die Bibliothekarin war eine korpulente Frau, die sich schwerfällig bewegte. Sie holte eine Rolle aus einem Schubladenschrank und half mir, den Film ins Lesegerät einzufädeln. Ich setzte mich davor. »Viel Erfolg«, sagte sie.
Ich spielte mit dem Knopf herum wie mit dem Gasgriff eines neuen Motorrads. Kreischend lief der Mikrofiche durch die Maschine. Ich stoppte ihn alle paar Sekunden und sah nach, wo ich war. Nach nicht einmal zwei Minuten hatte ich das richtige Datum. Der Artikel war auf der dritten Seite.
Als ich die Schlagzeile sah, bildete sich ein Klumpen in meiner Kehle.
Ich schwöre, dass ich das Quietschen der Reifen manchmal wirklich gehört habe, obwohl ich mehrere Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt in meinem Bett geschlafen hatte. Die Erinnerung schmerzte noch immer - vielleicht nicht so extrem wie die an die Nacht, in der ich Elizabeth verloren hatte -, doch es war meine erste unmittelbare Erfahrung mit Sterblichkeit und menschlicher Tragödie, und so etwas vergisst man nicht. Selbst nach zwölf Jahren erinnerte ich mich noch an sämtliche Einzelheiten jener Nacht, die allerdings wie von einem Tornado durcheinander gewirbelt worden waren - das Klingeln an der Haustür vor Sonnenaufgang, die Polizisten mit den ernsten Gesichtern, Hoyt einer von ihnen, ihre leisen, sorgfältig gewählten Worte, unsere ungläubige Verzweiflung, die langsame Erkenntnis, Lindas kummervolles Gesicht, meine unablässigen Tränen, meine Mutter, die es immer noch nicht wahrhaben wollte, die mich zur Ruhe mahnte und mir sagte, ich solle zu weinen aufhören. Ihr schon damals angegriffener Verstand hatte der Belastung nicht standgehalten, und sie herrschte mich an, ich solle mich nicht wie ein Baby benehmen, beharrte darauf, dass alles in Ordnung war, bis sie plötzlich ganz dicht an mich heran kam und staunte, wie groß meine Tränen waren, zu groß, sagte sie, so große Tränen gehören höchstens in das Gesicht eines Kindes, nicht in das eines Erwachsenen. Dann hatte sie eine Träne berührt, sie zwischen Daumen und Zeigefinger verrieben und gesagt: »Hör auf zu weinen, David!« Sie war immer wütender geworden, weil ich nicht aufhören konnte, bis sie schließlich losgebrüllt hatte, dass ich aufhören sollte zu heulen, bis Linda und Hoyt dazwischengegangen waren, sie beruhigt hatten, und ihr irgendjemand - weder zum ersten noch zum letzten Mal - ein Beruhigungsmittel gegeben hatte. All das stürzte in einem furchtbaren Schwall noch einmal auf mich ein. Und dann las ich den Artikel und spürte, wie der Aufprall mich auf eine ganz neue Art und Weise erschütterte.
Auto in Schlucht gestürzt
Ein Toter. Ursache unbekannt.
Gestern Nacht gegen 3 Uhr stürzte ein von Stephen Beck aus Green River, New Jersey, gesteuerter Ford Taurus bei Mahwah nahe der Grenze nach New York von einer Brücke. In Folge der Schneestürme herrschte Straßenglätte. Die Polizei hat jedoch noch keine Angaben zur Unfallursache gemacht. Der einzige Zeuge des Unfalls, Melvin Bartola, ein LKW-Fahrer aus Cheyenne, Wyoming …
Ich las nicht weiter. Selbstmord oder Unfall. Das hatten sich alle gefragt. Jetzt wusste ich, dass sie alle Unrecht gehabt hatten.
Brutus sagte: »Was ist
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