Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One
bestimmten Ort«, sagte ich. »So, dass man mir nicht folgen kann.«
Tyrese sah Brutus an. »Steigen Sie ein«, sagte er dann.
42
Brutus fuhr wie ein Verrückter. Er raste falsch herum durch Einbahnstraßen und wendete urplötzlich mitten auf der Straße. Er schnitt von der rechten Spur quer durch dichten Verkehr und bog an einer roten Ampel links ab. Wir kamen ausgezeichnet voran.
Am MetroPark in Iselin fuhr in zwanzig Minuten ein Zug nach Port Jervis ab. Dort konnte ich mir dann einen Wagen mieten. Als sie mich am Bahnhof absetzten, blieb Brutus im Wagen sitzen. Tyrese begleitete mich zum Schalter.
»Sie haben gesagt, dass ich abhauen und nie wieder zurückkommen soll«, sagte Tyrese.
»Stimmt.«
»Vielleicht«, sagte er, »sollten Sie sich das auch mal überlegen.«
Ich streckte die Hand aus, damit er sie schütteln konnte. Er ignorierte sie und umarmte mich heftig. »Danke«, sagte ich leise.
Er ließ mich los, hob kurz die Schultern, wodurch seine Jacke etwas runterrutschte, und rückte sich die Sonnenbrille zurecht. »Jaja, alles klar.« Er wartete nicht auf eine Antwort, drehte sich um und ging zum Wagen.
Der Zug kam pünktlich an und fuhr pünktlich wieder ab. Ich ließ mich auf einen leeren Sitz fallen und versuchte, nicht nachzudenken. Es klappte nicht. Ich sah mich um. Der Waggon war ziemlich leer. Zwei junge Mädchen plapperten im Ey-weißte- und Du-sag-mal-Jargon. Mein Blick wanderte weiter. Er fiel auf eine Zeitung - ein lokales Boulevardblatt, um genauer zu sein -, die jemand auf dem Sitz liegen gelassen hatte.
Ich ging hinüber und sah sie mir an. Die Titelseite zeigte das Foto einer jungen Filmschauspielerin, die Ladendiebstahl begangen hatte. Ich blätterte ein bisschen weiter und suchte nach den Cartoons oder den neuesten Sportergebnissen - irgendetwas, das mich vom Grübeln ablenken könnte. Ich blieb dann allerdings an einem Foto von, tja, meiner Wenigkeit hängen. Gesucht. Faszinierend, wie niederträchtig ich auf dem dunklen Foto aussah - wie ein Terrorist aus dem Mittleren Osten.
Und dann sah ich etwas darunter. Und meine ohnehin aus den Fugen geratene Welt brach erneut zusammen.
Ich hatte den Artikel gar nicht richtig gelesen. Mein Blick war nur kurz über die Seite geschweift. Dabei waren mir die Namen ins Auge gefallen. Zum ersten Mal. Die Namen der Männer, deren Leichen man am See gefunden hatte. Ich kannte einen von ihnen.
Melvin Bartola.
Das war vollkommen unmöglich.
Ich ließ die Zeitung fallen und rannte los. Durch die Schiebetüren hindurch. Zwei Waggons weiter vorne fand ich den Schaffner. »Welches ist die nächste Haltestelle?«, fragte ich.
»Ridgemont, New Jersey.«
»Gibt es dort eine Bibliothek in Bahnhofsnähe?«
»Woher soll ich das wissen?«
Ich stieg trotzdem aus.
Eric Wu spannte seine Finger an. Mit einem kurzen, kräftigen Stoß drückte er die Tür auf.
Sie hatten nicht lange gebraucht, um herauszufinden, wer die beiden Schwarzen waren, die Dr. Beck zur Flucht verholfen hatten. Larry Gandle hatte Freunde bei der Polizei. Wu hatte ihnen die Männer beschrieben und dann die dazu passenden Verbrecherfotos durchgesehen. Nach ein paar Stunden hatte er einen Schläger namens Brutus Cornwall identifiziert. Sie hatten ein paar Leute angerufen und erfahren, dass Brutus für einen Drogenhändler namens Tyrese Barton arbeitete.
Ganz einfach.
Die Sicherheitskette zerriss. Die Tür flog auf und knallte gegen die Wand. Latisha blickte erschrocken auf. Sie wollte schreien, aber Wu war zu schnell. Er hielt ihr den Mund zu und neigte sich ganz nahe zu ihrem Ohr. Ein anderer von Gandle angeheuerter Mann folgte ihm.
»Psst«, sagte Wu beinahe sanft.
TJ spielte auf dem Fußboden mit seinen Spielzeugautos. Er drehte den Kopf in Richtung des Lärms und sagte: »Mama?«
Eric Wu sah lächelnd zu ihm hinab. Er ließ Latisha los und kniete sich auf den Boden. Latisha versuchte, ihn aufzuhalten, doch der andere Mann hielt sie fest. Wu legte dem Jungen seine riesige Hand auf den Kopf. Er streichelte TJs Haar und drehte sich zu Latisha um.
»Können Sie mir sagen, wo ich Tyrese finde?«, fragte er.
Als ich aus dem Zug ausgestiegen war, nahm ich ein Taxi zur Autovermietung. Der Angestellte im grünen Jackett erklärte mir den Weg zur Bibliothek. Nach etwa drei Minuten war ich da. Die Bibliothek in Ridgemont war ein modernes Backsteingebäude im kolonialen Stil mit großen Panoramafenstern, Birkenholzregalen, Balkons, Türmchen und einer Cafeteria. Im zweiten Stock bei
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