Kein Tod wie der andere
durch die Baumkronen des umliegenden Waldes, wenn sich wieder ein leichter Windstoß in ihnen verfing. Er hing seinen Gedanken nach, überlegte, ob es in seiner Biografie andere Weichenstellungen hätte geben können, die ihn an einen solchen Ort geführt hätten.
Damals, als er sein Elternhaus verlassen musste, war er fast ein Jahr lang unterwegs gewesen, hatte sich zunächst an der niederländischen Küste, später in Südfrankreich und dem spanischen Galizien mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. In der Fremde war es kein Problem gewesen, abzutauchen, sich fernzuhalten von den Einheimischen, die ihn ohnehin nicht brauchten.
Bis er eines Tages auf dem Wochenmarkt von Marin bei Pontevedra Señiora Lucia Marquéz kennengelernt hatte. Es war Zufall, dass er bis zu dieser Kleinstadt mitgenommen worden war. Genauso, dass er gerade an ihr vorbeiging, als ihr der Henkel der Einkaufstasche riss. Er hatte schnell beim nächsten Standbesitzer zwei neue Tüten geholt, das Gemüse und die Wurst darin verstaut und war dann völlig verdattert gewesen, als sie die mit einem fast akzentfreiem »Danke« entgegennahm. Es folgte zunächst eine Einladung zum Abendessen, die er vor allem annahm, weil er wieder einmal Deutsch sprechen wollte. Dann blieb er über Nacht, weil er ohnehin keine Bleibe hatte und die Nächte an der Atlantikküste im Dezember kühl und windig waren. Nach zwei Tagen vereinbarten sie, dass er für Kost und Logis den Garten wieder auf Vordermann bringen und einzelne Reparaturen am Haus erledigen sollte. Es wurden letztlich drei Monate daraus. Drei Monate bei der ehemaligen Deutschlehrerin, die ihn zurück ins Leben brachten.
Ja, die kleine Finca mit dem großen Garten wäre vielleicht der Rückzugsort gewesen, an dem er sich damals hätte niederlassen können. Aber Lucia war vierundachtzig Jahre alt, und ihr Herz hörte am 12. März auf zu schlagen, als sie wie jeden Mittag in Decken gehüllt auf ihrer Veranda saß und auf das Meer hinaussah. Lucias Erben hatten wenig Verständnis für den jungen deutschen Gärtner, und so verließ er Galizien noch am Tag der Beerdigung. Aber er nahm ein Erbe von Lucia mit zurück nach Deutschland. Sie hatte häufig von ihrem Enkel erzählt, der als Polizist in Vigo gearbeitet hatte. Das tat sie stets mit einer solchen Hingabe, einem so uneingeschränkten Stolz, dass …
Als Buhle ein schlürfendes Geräusch hinter sich hörte, wurde er – zu seinem großen Bedauern – aus seinen Gedanken gerissen. Er drehte sich um und sah einen alten Mann nur wenige Meter hinter sich stehen. Es konnte sich nur um Paul Feilen handeln, der im Nachbarhaus der Altmüllers wohnte.
»Guten Tag, Herr Feilen. Sie haben mich beinahe erschreckt. Wir haben uns noch gar nicht persönlich kennengelernt. Ich bin Kriminalhauptkommissar Buhle von der Kripo Trier.« Buhle wollte aufstehen und den alten Mann begrüßen. Doch dieser winkte ab.
»Bleiben Sie ruhig sitzen, Herr Kommissar. Ich weiß schon, wer Sie sind. Wenn Sie gestatten, würde ich mich gerne dazusetzen. Ich sitze fast jeden Tag hier auf der Bank und schaue ins Tal. Es bleibt nicht viel, was ein alter Bauer tun kann, dem Hof, Frau und Sohn genommen wurden.«
Buhle verspürte keine Lust, mit dem betagten Mann ein Gespräch über die gute alte Zeit und die schlechte Gegenwart zu führen. Doch dann sagte er sich, dass es vielleicht auch etwas Besonderes war, wenn dieser mürrische letzte Landwirt des Gehöfts sich zu ihm setzen wollte. Also rückte er zur Seite. Zunächst herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern, das Buhle aber überhaupt nicht als unangenehm empfand. Es schien zu dem Platz dazuzugehören, und es war fast so, als ob er sich in diesem Augenblick als einer aus der Merteskaul fühlen durfte.
»Haben Sie den Mörder schon?« Die Frage kam unvermittelt. Buhle hatte schon fast nicht mehr damit gerechnet.
»Nein, haben wir noch nicht. Haben Sie Zeitung gelesen oder Radio gehört?«
»Ja, hab ich. Die Kleine ist an einem Virus gestorben, hieß es.«
»Ja, wir wissen jetzt, was für ein Virus es war, und vermutlich auch, wo er herkam.«
»Und woher kam er? Aus China?«
Buhle hatte wie Paul Feilen seinen Blick geradeaus ins Freie gerichtet. Nun drehte er sich überrascht zu seinem Banknachbarn um.
»Wie kommen Sie auf China?«, fragte er und dachte gar nicht daran, sein Erstaunen zu unterdrücken.
»Na ja, da waren ab und zu mal Chinesen hier unterwegs.«
»Bitte? Das müssen Sie mir jetzt aber etwas
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