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Kein Tod wie der andere

Kein Tod wie der andere

Titel: Kein Tod wie der andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Ness
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mehrmals fangen, weil sie auf dem feuchten Gras drohte, die Balance zu verlieren. Als sie zurückschaute, sah sie Thill gerade aus dem Haus stürmen. Sie hatte einen Vorsprung. Ihre einzige Rettung war das Tor in der Gartenmauer, es musste offen sein.
    Als sie dort angelangt war, riss sie an der verzierten Metallklinke, aber das Tor bewegte sich nicht. Es durfte nicht abgeschlossen sein! Sie zog noch einmal mit einem Ruck und aller Kraft und fiel fast um, als sich das verklemmte Metalltor doch noch löste. Sie rannte durch die Maueröffnung. Während sie das Tor hinter sich zuwarf, blieb der Saum ihres Kleides an einem der gebogenen Metallstäbe hängen. Sie riss sich los und lief weiter. Sie ignorierte den schmalen Fußpfad entlang der Mauer und nahm den Weg quer durch den dahinterliegenden Laubwald. Das hallenartige Kronendach des Buchenwalds ließ nur wenig Unterwuchs zu.
    Hannah Sobothy hastete durch das Laub, blieb an einem Stock hängen, im Aufstehen sah sie, dass sie den Abstand zu Thill halten konnte. Nach vielleicht hundert Metern kam sie an einen Waldweg. Sie rutschte die Böschung hinunter und jagte den Schotterweg weiter bergab. Ihr Atem ging schon jetzt sehr unregelmäßig, und sie spürte, wie die Kraft in ihren Beinen nachließ. Schlimmer war jedoch, dass sie merkte, wie Thill aufholte. Sein massiger Körper schien auf der freien Strecke mit dem Gefälle im Vorteil zu sein.
    Der Weg trennte den Buchenwald von einer unterhalb liegenden Fichtenschonung, deren Äste bis weit nach unten reichten. Als sie schon den schweren Atem von Thill hinter sich hörte, sah sie eine kleine Lücke im Waldrand. Mit voller Wucht sprang sie über einen Graben in die Dickung. Mit den Armen versuchte sie, ihr Gesicht vor den trockenen Ästen zu schützen, die ihren Fluchtweg versperrten. Nur undeutlich hörte sie hinter sich einen Schmerzensschrei ihres Verfolgers, auf den eine Reihe lauter Flüche folgten. Sie blickte kurz zurück: Sie hatte den Abstand etwas vergrößern können. Sie rannte weiter, ignorierte die Schmerzen an ihren Armen und im Gesicht, stolperte, stürzte, rappelte sich wieder auf und rannte weiter. Wieder kam sie an einen Fuhrweg. Mit Mühe konnte sie sich beim Sprung auf den Weg auf den Beinen halten, schaffte es aber nicht zu bremsen und strauchelte mit voller Wucht in das Gebüsch auf der anderen Wegseite. Von hinten hörte sie das Ächzen und Schreien von Thill, der ihr immer noch auf den Fersen war. Der Sturz hatte ihr mehrere Schürfwunden zugefügt, aus denen Blut sickerte, doch die Wucht des Aufpralls hatte sie durch die Sträucher gedrückt. Sie raffte sich wieder hoch und stolperte gebückt vorwärts durch einen jetzt wieder lichteren Wald.
    Nach weiteren gut zweihundert Metern Sturzflug über den Waldboden sah sie vor sich eine Straße auftauchen. Sie hörte das Motorengeräusch eines Pkws. Thill hatte wieder etwas aufgeholt. Trotz seines Übergewichts schien er mehr Kraftreserven zu besitzen. Als es nur noch zehn Meter bis zur Straße waren, sah Sobothy, dass eine hohe Böschung sie von ihr trennte. Gleichzeitig schien das Auto immer näher zu kommen. Sie überlegte nur einen Moment, dann rutschte sie den felsigen, mit Zwergsträuchern bewachsenen Hang hinunter, sah einen silbergrauen Kombi nur noch fünfzig Meter von ihr entfernt heranfahren, sprang in aller Verzweiflung den letzten Meter auf das Straßenbankett hinunter, fiel, raffte sich auf und wedelte auf Knien wild dem Auto entgegen. Sie konnte es kaum glauben, als es tatsächlich anhielt.
    Sie schaute nach oben und sah Thill an der Hangkante stehen und auf sie herabstarren. Sie riss die Beifahrertür auf, schmiss sich auf den Sitz und schrie: »Fahren Sie, schnell, fahren Sie los!« Mit Blick auf Thill spürte sie, wie sich das Auto rasch in Bewegung setzte und sich von ihrem Verfolger entfernte. Sie schloss die Augen und versuchte ihren Atem zu beruhigen. Sie hatte es geschafft, sie war ihm entkommen. Sie spürte, wie ihr ganzer Körper anfing zu brennen, wie ihr Kleid in Fetzen an ihr herunterhing. Es war ihr egal. Viel größer war die Erleichterung. Endlich konnte sie die Augen öffnen, und sie wandte sich ihrem Retter zu.
    »Danke, Sie hat der Himmel geschickt, ich weiß gar nicht –« Der Dank fand nicht mehr den Weg über ihre aufgeplatzten Lippen, als sie zum Fahrer des Wagens hinsah: Sun Shiwen?

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    Dalheim; Sonntag, 19.   Juni
    Es war zunächst alles nach Plan gelaufen. Nanette Bonitzer war überpünktlich zu dem

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