Kein Tod wie der andere
Quartier verlassen. In den Jahren vorher hatten Nora und Mattis das aufgeregte Gezwitscher der hungrigen Küken jeden Tag im Frühling verfolgt. Hatten die Eltern beobachtet, wie sie emsig und unermüdlich ihren Jungen Nahrung brachten; von Tag zu Tag immer öfter, immer mehr. Bis ganz plötzlich und ohne vorherige Anzeichen um den hölzernen Kasten mit dem kleinen Loch an der Frontseite alles ruhig war. Danach hatten die Kinder noch tagelang in den Hecken und Bäumen des Gartens gesucht und waren jedes Mal entzückt, wenn sie tatsächlich noch eine junge Meise entdeckten. Marie erinnerte sich, dass sie häufig mit Thomas am Fenster gestanden hatte, um Nora und Mattis dabei zuzusehen. Es war für sie jedes Mal ein Glücksmoment gewesen. Der letzte war gerade ein Jahr her. Ein Jahr, in dem sich für ihre Familie alles verändert hatte. Dieses Jahr hatten die Kinder den Tag verpasst, als die jungen Meisen ausgeflogen waren.
Thomas hatte heute Morgen angerufen und Mattis zum Geburtstag gratuliert. Danach hatte er ihr am Telefon erzählt, dass die Ärzte es ihm untersagt hätten, Mattis persönlich zu gratulieren. Marie hatte gespürt, dass Thomas darüber sehr traurig war. Sie hatte ihm Mut zugesprochen und gesagt, dass er es vielleicht in zwei Wochen zu Noras Geburtstag schaffen würde. Doch hatte sie nicht den Eindruck, damit seine Stimmung wirklich verbessert zu haben. Als sie aufgelegt hatte, war in ihr ein Gefühl von zum Zerreißen gespannter Leere gewesen. Sie hätte ebenso gut mit aller Wucht auf ihren Boxsack eindreschen als auch wie ein leerer Sack schlaff in sich zusammenfallen können.
Von Zoé hatte Marie ihrem Mann nichts gesagt. Nichts von einer möglichen Gefahr, die wieder um ihr Haus in Avelsbach herumschleichen könnte. Nichts von dem, was ihr so zusetzte.
Silvia Lenz hatte zunächst gezögert, dann aber doch zugesagt, mit Zoé und Nora auszureiten. Nicole Huth-Balzer hatte die Nachbarin der Altmüllers in Merteskaul abgeholt. Zoé war zunächst zögerlich, dann doch erfreut gewesen, als sie hörte, dass sie zusammen reiten würden. Maries Sorge hatte sich ein wenig gelegt, als Nicole ihr mitteilte, dass neben ihr auch ein Kollege immer auf Sichtweite dabei sein würde.
Marie mochte die junge Polizistin, die sogar an ein Geschenk für Mattis gedacht hatte. Allerdings war ihr nicht verborgen geblieben, dass Nicole deutlich unsicherer geworden war, als sie sich gestern Nacht über Christian unterhalten hatten. Marie hatte schon im letzten Jahr vermutet, dass Nicole mehr als nur Sympathien für ihren Chef hegte. Jetzt waren die Frauen mit den beiden Mädchen schon über drei Stunden unterwegs. In der Zeit hatte sie von Nicole vier Nachrichten per SMS erhalten: Alles sei in Ordnung. Viel ruhiger wurde sie dennoch nicht.
Für Mattis war es ein Geburtstag, wie sie ihn sich für ihren Sohn gewünscht hatte. Alle seine Freunde waren gekommen. Hatten Geschenke mitgebracht, über die sich Mattis richtig gefreut hatte. Waren lustig, aufgedreht und wild, die Ersten bereits ein bisschen cool, wie elfjährige Jungs zu so einem Anlass eben sind.
Das größte Geschenk für Marie an diesem Tag war allerdings ein Anruf frühmorgens um acht Uhr gewesen. Ihr bester Freund Peter Kasper war am Apparat und hatte ihr offenbart, dass er einer Eingebung folgend um Punkt zwölf auftauchen würde: mit zwei Blechen Kuchen und einer Torte, mit Limo, Würstchen und Zutaten für Stockbrot, mit einem original BVB -Fußball und einer Kiste voller Ideen für eine Wilde-Kerle-Party. Sie hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt keine wirklichen Gedanken gemacht, wie sie die Feier gestalten wollte. Zu sehr war sie mit Zoé und den Geschehnissen in Merteskaul beschäftigt gewesen. Als Peter pünktlich wie immer kam, hatte sie ihm nicht entlocken wollen, wie diese Eingebung zustande gekommen war. Er hatte aber etwas von »höheren Mächten« gesagt und ihr dabei mit seinen sanften Augen tief in die Seele geschaut. Sie ahnte, wer ihm den Tipp gegeben hatte.
Nach der Kuchenorgie hatte Peter ein spontanes Fußballturnier auf der Wiese vor dem Haus veranstaltet. Die Hälfte der Kinder war ohnehin im Trikot ihrer jeweiligen Lieblingsmannschaft gekommen. Am Ende hatte Mattis mit dem BVB -Emblem auf der Brust zusammen mit seinem besten Kumpel und überzeugten Bayern-Fan Jan unangefochten gesiegt. Als die Helden des grünen Rasens wieder zurückkamen und im Schatten der Gartenbäume ihren Durst mit Limonade stillten, überfiel Peter die Jungs mit
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