Kein Tod wie der andere
können. Dass es sich um etwas Ernsteres handeln musste, hatte Suzanne erkannt, als sie am frühen Abend wieder nach Hause kam. Anne zeigte für einen Infekt untypische Anzeichen, wie zum Beispiel den pathologischen Babinski-Reflex oder wenig später auch erste Lähmungserscheinungen, die auf eine Erkrankung des Nervensystems hindeuteten.
Während seines weiteren Berichts musste Steffen immer häufiger auf seine Aufzeichnungen schauen. Nach Aussage des Mediziners hatten sie noch am selben Abend sicher feststellen können, dass er sich um eine Viruserkrankung handelte, die unter anderem zu einer Schädigung des Nervensystems geführt hatte. Eine sichere Diagnose, basierend auf den vorliegenden klinischen Symptomen, sei aufgrund der Ähnlichkeit mit anderen Erkrankungen mit neurologischer Symptomatik nicht möglich gewesen. Sie hätten in ihrer Behandlung versucht, den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen, indem sie entzündungshemmende Präparate eingesetzt und Infusionen verabreicht hätten, um den Kreislauf zu stabilisieren. Aber ohne eine klare Diagnose und entsprechende Gegenmittel waren sie machtlos gewesen.
»Und warum wurde der Fall nicht der Polizei angezeigt? Ist das nicht üblich, wenn die Ursache für eine tödliche Erkrankung unklar ist?« Gerhardts reagierte mit sichtbarem Unverständnis auf die Schilderungen des Kollegen.
»Das haben wir Zetteritz natürlich auch gefragt«, antwortete Steffen. »Aber für ihn war die Krankheitsursache ja klar: Es war eindeutig eine Virusinfektion. Das steht auch auf dem Totenschein. Dass der Virus oder der Infektionsweg unbekannt waren, war für den Mediziner mit dem Eintreten des Todes dann zweitrangig und nicht mehr sein Aufgabenbereich. Zumal ja kein Fehlverhalten der Eltern oder anderer Personen erkennbar war. Solche Erkrankungen kommen einfach hin und wieder vor.«
»Das heißt, wir wissen immer noch nicht, wieso Anne Altmüller erkrankt und gestorben ist. Kann man das durch eine Obduktion jetzt noch feststellen?«
Steffen räusperte sich. »Nein, und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstens, weil der Todeszeitpunkt schon zu lange zurückliegt und Viren und Antikörper jetzt anscheinend nicht mehr nachweisbar wären. Zweitens, weil Anne und, wie wir jetzt wissen, auch ihr Vater eingeäschert wurden. Sie sind übrigens in einem sogenannten Friedwald nahe der luxemburgischen Grenze beigesetzt worden. Aber …«, Steffen versuchte, nicht allzu pathetisch zu klingen, »unser Doktor im Mutterhaus hat offenbar mitgedacht und hat Blut- und Gewebeproben von Anne Altmüller gesichert, also eingefroren oder so.«
»Genau. Aber seine Abteilung hat gar nicht die technische Ausstattung für die notwendige Diagnostik. Er hatte dennoch die Proben gezogen und tiefgekühlt, um sie für mögliche spätere Untersuchungen vorrätig zu haben.« Huth-Balzer fühlte sich mittlerweile so weit in das Team integriert, dass sie sich traute, ungefragt ihre Meinung kundzutun.
»Wenn ihr mich fragt«, fuhr sie fort, »hatte das auch noch einen anderen Grund: Ich hatte den Eindruck, dass die Ärzte mittlerweile übervorsichtig sind, dass sie Angst haben, man könne ihnen ein Fehlverhalten nachweisen. Wahrscheinlich hat Dr. Zetteritz die Proben auch aufgehoben, damit er bei möglichen Anschuldigungen Beweismittel liefern, also sich selbst absichern kann. Das deutet für mich darauf hin, dass er sich tatsächlich unschuldig fühlt.«
»Ein mögliches Fehlverhalten der Ärzte wird für unseren Fall allerdings auch irrelevant sein.« Buhle hatte während der Ausführungen der beiden Kollegen eine innere Unruhe ergriffen. »Wir müssen wissen, um welchen Virus es sich handelt. Niko, Nicole, bitte sorgt dafür, dass die Proben vom Mutterhaus ins LKA gebracht werden. Dort soll man sich Gedanken machen, wie die Viren zu identifizieren sind. Erst wenn wir das wissen, können wir beurteilen, ob es irgendwelche Zusammenhänge zu unseren Ermittlungen gibt. Mir fällt bislang nur eine mögliche Verbindung ein, und da wird mir schon beim Gedanken daran schlecht.«
Es herrschte einen Moment Stille, weil jeder wusste, was ihr Chef meinte und keiner es wirklich aussprechen wollte. Schließlich war es Steffen, der die Sache auf den Punkt brachte: »Du meinst Altmüllers Recherchen zu den Biowaffen. Wenn es da etwas gibt, rühren wir hier in gequirlter Scheiße und haben obendrein noch das BKA am Bein. Beides würde mir mächtig stinken. Ich kümmere mich um die Proben.«
»Okay, Niko, mach das.«
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