Kein Wort mehr ueber Liebe
wissen, dass sie Lügner sind. Jeder lügt.
Wenn Louise Blum nachdenkt, kneift sie die Augen zusammen, und Thomas findet die vertikale Falte auf ihrer Stirn bezaubernd.
– Nein, nicht jeder. Nicht mein Ehemann.
– Na, da schau an … Das ist aber ganz und gar nicht normal, er sollte mal zum Analytiker gehen.
– Und doch ist es so, er lügt nicht. Romain ist Wissenschaftler, und ein Wissenschaftler lügt nicht.
– Romain Vidal, ich weiß. Er ist sehr berühmt.
– Sehr berühmt ? Nun ja … ziemlich.
Louise fügt nichts weiter hinzu. Sie räumt ihre Papiere zusammen, schaltet den Computer aus, macht sich in ihrer schönen flüssigen Handschrift ein paar letzte Notizen in einem Heft. Die Sonne zeichnet ihr einen blonden Helm auf den Kopf, in ihren Augen liegt ein goldener Widerschein. Er findet sie so strahlend, so wunderbar, dass er diesen Zustand der Exaltiertheit gleich wiedererkennt. Stendhal hat den Moment der Kristallisation nur allzu genau beschrieben, diesen Augenblick, in dem der Liebende – Thomas kennt den Satz auswendig – »aus allem, was sich ihm darbietet, die Entdeckung ableitet, dass das Objekt seiner Liebe auf ganz neue Art vollkommen ist«, so wie auch das Salz in den Minen des Salzkammerguts in wenigen Monaten den unbedeutendsten Baumzweig, den man dort hineinwirft, »mit beweglichen und funkelnden Diamanten« überzieht. Aber auch wenn Thomas um das Warum der Dinge weiß, so glitzert Louise deswegen nicht weniger. Er hat den Mut der Schüchternen:
– Ich hatte nicht gehofft, dich so rasch wiederzusehen.
– Ich wollte eine kostenlose Sitzung.
– Es gibt keine kostenlosen Sitzungen. Das ist wie bei den Mahlzeiten. Es hat alles einen Preis.
– Ich werde zahlen. Aber nun sag mir: Wie wird man Psychoanalytiker?
– Ah! Willst du die kurze oder die lange Antwort? Die lange dauert fünf Jahre.
Louise will die kurze Antwort. Thomas erklärt die Sache mit dem Jardin du Luxembourg, erzählt vom ziellosen Dilettieren, von der Selbstvergessenheit, dem unvermittelten Einbruch des Todes mit Piettes Selbstmord, von der Verwandlung, der Begegnung mit der Mutter seiner beiden Töchter, der plötzlichen Angst, im Alter von dreißig Jahren, als er sein Medizinstudium zu Ende brachte, kein wirkliches Verlangen zu haben, nichts zu sein. Er spricht lang, in einfachen Worten. Er hat das alles schon einmal erzählt, jemand anderem – und in anderen Worten.
– Ich wusste überhaupt nicht, was ich wirklich wollte. Da war eine Mauer. Und mein Leben war hinter dieser Mauer. Ich habe mit einer Analyse begonnen, um leben zu können. Es war eine dicke Mauer, ich habe viel Zeit gebraucht.
– Und jetzt?
– Die Mauer ist immer noch da, aber ich weiß, wie ich manchmal hinübersteigen kann.
Louise hört ihm zu, betrachtet ihn. Thomas’ Gesicht ist sanft, hell. Seine schwarzen Augen, seine tiefe Stimme wirken beruhigend auf sie. Sie fühlt sich so selten ruhig, so selten in Sicherheit.
– Thomas … Heute Morgen wollte ich gerade aus dem Haus gehen. Romain stellte mir keinerlei Fragen … und trotzdem habe ich ihm gesagt, dass ich mit einem Mandanten zu Mittag essen werde.
Sie hebt ihre Tasse an, stellt sie wieder ab, wartet, aber Thomas’ Frage kommt nicht. Sie hebt die Augenbrauen, senkt den Kopf.
– Du fragst nicht, warum? Ich dachte, du wärst Psychoanalytiker?
– Eben. Es ist nicht die Rolle des Analytikers, irgendetwas zu sagen.
Mit ernster Miene holt Thomas ein Notizheft und einen Filzstift aus seiner Tasche und notiert mit großer Sorgfalt das Datum oben auf die Seite.
– Sehr geehrte Frau Blum, die erste Sitzung stelle ich niemals in Rechnung. Wir werden den Tarif für unsere Sprechstunden zu einem späteren Zeitpunkt festlegen. Kommen wir also wieder zum Thema zurück. Ich höre.
– Sehr schön. Zunächst habe ich also eine Frage beantwortet, die Romain gar nicht gestellt hatte. Das hat mich selbst überrascht. Dann habe ich aus dir einen Mandanten gemacht. Ich habe den ganzen Vormittag darüber nachgedacht. In zehn Jahren habe ich Romain noch niemals angelogen.
Sie unterbricht sich. Thomas beobachtet sie. Über ihrer Nasenspitze hat sich eine kleine Schweißperle gebildet, ihre Augen sind auf den Kaffeesatz in Thomas’ Tasse gerichtet.
– Wenn ich gelogen habe, dann weil ich mich in der Tat schuldig fühle, diese Verabredung getroffen zu haben. Natürlich hätte ich Romain nichts davon zu sagen brauchen oder ich hätte ihm auch von dir und dem Abendessen vorgestern erzählen
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