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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herve Le Tellier
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so nicht weitergehen konnte. Diese beiden gut ausbalancierten Sätze gefallen ihm, er notiert sie in sein Heft.
    Was er von Anna Stein zu erwarten hat, weiß er nicht. Er wüsste sie nicht einmal genau zu beschreiben, die ovale Form ihres Gesichts, die Farbe ihrer Augen. Sie ist noch nicht mehr als ein Gefühl, aber dieses Gefühl dringt tief in ihn ein und lässt keinen Zweifel mehr zu. Er hatte diese schmerzliche,so intime Form der Verwirrung vergessen, glaubte ihre Quelle für immer versiegt, hatte der Erfahrung, die alles in ein schales Licht taucht, oder, schlimmer noch, den Jahren, die dahinfließen, die Schuld daran angelastet: An den Jahren lag es also nicht. Das beruhigt ihn und es verunsichert ihn. Mit Ariane hat er viele zärtliche Augenblicke verlebt. Woher kommt es aber, dass ihm keiner dieses Brennen verursacht hat? Tausendmal hat er ihr gesagt: »Ich liebe dich.« Woher weiß er heute, dass er jedes Mal gelogen hat? Yves wird Ariane verlassen, und er schämt sich für diese honigsüße Herzenswärme, die man Zuneigung nennt, schämt sich für diese Untröstlichkeit, die er vorgeben wird, schämt sich für dieses neue, plötzlich auflodernde Feuer, das er verbergen muss.
    Ariane wartet in einem Café in der Rue Monsieur Le Prince auf ihn, sie liest und trinkt dabei eine heiße Schokolade. Bevor sie ihn entdeckt, mustert Yves sie ganz genau. Sie ist wirklich schön, in vielerlei Hinsicht vielleicht schöner als Anna Stein. Auch sanfter, fröhlicher, das ahnt er bereits. Er weiß sogar, dass er immer mit Wehmut an sie denken wird, an sie beide, dass er bald schon dieser ruhigen Ausgeglichenheit nachtrauern wird, er ahnt, dass er es späterhin niemals wagen wird, ihr diese Trauer zu gestehen. Aber Anna Stein hat ihn gefesselt, geblendet, und Yves kämpft nicht dagegen an, er will sich dieser Verzauberung ganz ausliefern, er will dieses Schwindelgefühl über dem Abgrund, das er schon nicht mehr wiederzufinden glaubte, aufs Neue erfahren.

THOMAS UND LOUISE
    Thomas Le Gall mag das Café Zimmer nicht. Er hat seit zehn Jahren keinen Fuß mehr hineingesetzt, aber es hat sich nichts verändert. Immer noch zu viel Plüsch, zu viel Karminrot, zu viel Teppichboden. Und auch zu viele Autos an der Place du Châtelet. Aber es behagt ihm, sich nicht zu Hause zu fühlen: Dem Rokoko der Bänke und Stühle trotzen zu müssen, verleiht ihm Kraft. Er ist, ohne es zu wollen, viel zu früh gekommen, fast eine halbe Stunde. Vor zehn Jahren hätte er die Zeit noch bei den Bouquinisten totgeschlagen oder den Boas und Gespenstschrecken bei den Tierhändlern einen Besuch abgestattet. Aber diese jugendliche Neugierde ist verflogen, und jeder Versuch einer Wiederholung würde den Spaziergang nur in ein wehmütiges Licht tauchen. Trotzdem würde er Louise, sollte sie Lust darauf haben, vor den Reptilien und Vogelspinnen zu erschauern, begleiten, er würde ihr etwas von den Meerechsen auf den Galapagosinseln erzählen, den einzigen Lebewesen, deren Skelett bei Nahrungsmangel schrumpft.
    Thomas will sich in den hinteren Teil des Raumes setzen, aber er erblickt sie vor einer Tasse Tee sitzend an einem der anderen Tische. Sie trägt einen leichten Rock ganz im Stilder dreißiger Jahre und von einer kalkulierten Eleganz. Diese ostentative Art, Kleider zu tragen, ist Thomas auch bei Anna Stein aufgefallen. Ein Zeichen von Koketterie, aber es missfällt ihm keineswegs, dass Louise so ist, eben kokett. Sie klimpert auf den Tasten ihres Laptops herum, hat das Headset ihres Telefons am Ohr, sie steckt in einem Dienstgespräch. Er will sich schon entfernen, aber sie lächelt ihm zu, bedeutet ihm mit einer Handbewegung, sich zu setzen.
    – Tut mir leid, Herr Richter, ich muss jetzt in die Verhandlung … Falls Sie nichts dagegen haben, sprechen wir morgen weiter über meinen Mandanten. Ich werde daran denken … Dann bis Dienstag, o. k.
    Louise legt auf, Thomas mustert sie im gleißenden Sonnenlicht; zum ersten Mal macht er filigrane Krähenfüße neben ihren Augen aus, die braune Färbung der Tränensäcke, Hunderte von feinen Silberfäden in ihrem blonden Haar.
    – Guten Tag, Frau Anwältin. Du lügst gut.
    – Ich habe eine gute Schule … Ich war es nicht, Frau Anwältin … Ich habe nichts gestohlen, ich habe niemanden getötet, ich habe sie nicht vergewaltigt. Lügner treffe ich jeden Tag …
    – Ein Analytiker verbringt sein Leben auch mit Lügnern, mit Lügnern, die wissen, dass sie lügen, mit aufrichtigen Lügnern, die nicht

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