Kein Wort mehr ueber Liebe
die Essenz des Lebens,etwas, das er in sich selbst trägt, nicht das, was sie in ihm entstehen ließe. Dieser Mann schuldet ihr nichts. Er hat nicht auf sie gewartet, um zu leben, und die Fremdheit einer Männervergangenheit, die ohne sie stattgefunden hat, saugt sie an wie ein Luftwirbel.
Bislang kannte Anna nur einen Yves: Yves Beaudouin, ihren Vorgesetzten. Wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, erzählte sie Stan lediglich von Yves dies und Yves das. Aber gestern hatte sie auch den Familiennamen hinzugefügt: Yves Beaudouin, als ob diese Präzisierung nötig gewesen wäre.
Stan ist darüber verwundert gewesen, etwas spöttisch hatte er seine Frau gefragt:
– Gibt es noch einen anderen?
Anna hat ihn angeschaut, die Stirn gerunzelt, Unverständnis gemimt. Er wurde deutlicher:
– Einen anderen Yves?
Lächelnd hat sie ihre Verlegenheit überspielt:
– Blödmann.
Eine solche Antwort war natürlich ein Geständnis. Sie hätte sich gewünscht, dass Stan, sie durchschauend, nachbohrt, aber da er nicht weiter darauf eingegangen ist, da er sich ein weiteres Mal geweigert hatte, die Augen zu öffnen, war ihre Schuld jetzt umso geringer und er somit, bitte schön, noch schuldiger als sie.
ROMAIN
An der hohen Eichentür in der Eingangshalle der École de Médecine klebt ein kleines Plakat. Es weist den Weg zum Seminar »Genetik der Sprache« und informiert außerdem über den »Eröffnungsvortrag von Prof. Dr. Romain Vidal, 16h–18h«. Im Hörsaal Linné sind alle Plätze besetzt, und das Durchschnittsalter der Anwesenden belegt, was eine Seltenheit ist, dass man hier mehr Lehrenden als Doktoranden begegnet. Auf dem Katheder unterhalten sich lächelnd zwei Männer. Es wird wohl eine wissenschaftliche Komplizenschaft sein, die sie eint, denn vom äußerlichen Aspekt her trennt sie alles. Der erste, weißes Hemd, verwaschene Jeans, höchstens vierzig Jahre alt und von geradezu riesigem Wuchs, überprüft die Verbindungskabel zu seinem Laptop. Der ältere, blauer Anzug und zartlila Krawatte, ist etwas fülliger und klopft mit den Fingern aufs Mikrofon.
– Guten Tag, können Sie mich verstehen? Wenn Sie jetzt bitte Platz nehmen würden … In der ersten Reihe des Hörsaals sind noch ein paar Sitze frei. Vielen Dank … Als Direktor der Medizinischen Fakultät der Universität Paris V habe ich das Privileg, mit Herrn Doktor Romain Vidal einen Freund willkommen zu heißen. Er ist der erste Gast im Rahmen unseresVortragszyklus. Romain wird seinen Vortrag auf Französisch halten, aber wenn Sie die Kopfhörer benutzen wollen, die man Ihnen am Eingang ausgehändigt hat, können Sie von einer Simultanübersetzung ins Englische profitieren. Romain ist Leiter der Forschungsgruppe 468 »Nervensystem und Sprache« am INSERM, er lehrt Biochemie an der Universität Paris V und seit mehreren Jahren schon als
Professor of Genetics
in Princeton. Einige unter Ihnen werden sich noch an Romain Vidals populärwissenschaftliches Buch über die Proto-Sprache der Tiere erinnern,
Animals that speak
, das er mit dem Nobelpreisträger John Vermont geschrieben hat.
– …
that speak?
Romain legt den Akzent auf die letzte Silbe, auf das Fragezeichen.
–
Animals that speak?
Ich bitte um Verzeihung, Romain. War wenigstens die Aussprache in Ordnung?
Romain Vidals skeptischer Schmollmund sorgt für einiges Gekicher.
– Ich sehe … Dann überlasse ich dir jetzt besser das Wort.
Romain Vidal nickt freundschaftlich. Er bleibt stehen, überprüft das Mikro. Seine Stimme ist klar, er spricht schnell, routiniert.
– Danke, Jacques, für die kurze Einführung. Ich bin sehr gerührt, mich wieder in diesem Hörsaal zu befinden, in dem ich vor zwanzig Jahren Zellbiologie studiert habe. Dieser Eröffnungsvortrag hat also den Titel »Schlüssel zu einer Genetik der Sprache«. Ich werde in der Stunde, die mir zur Verfügung steht, versuchen, Ihnen meinen Wissensstand zu vermitteln. Dafür will ich Ihnen zunächst eine annehmbare Definition der Sprache liefern, sodann einige Überlegungenüber ihre Rolle in der menschlichen Evolution anstellen, bevor ich ihre Mutationen und Transformationen unter dem dreifachen Gesichtspunkt der Genetik, der Evolutionsforschung und der Linguistik betrachten werde. Danach komme ich auf die heutigen Aussichten für die Gentherapie zu sprechen. Und zum Abschluss werde ich Ihnen verraten, warum ich guter Hoffnung bin, eines Tages mit Darwin diskutieren zu können. Darwin ist der Kater meiner Töchter. Ich hoffe,
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