Kein Wort mehr ueber Liebe
dass Sie diesen Hörsaal schlauer verlassen werden, als Sie ihn betreten haben. Womit Sie letztlich nur noch unwissender sein werden, denn wie sagte doch so treffend, na, ich weiß nicht mehr, oder halt, doch, Henri Michaux, »jede Wissenschaft bringt neues Unwissen hervor«.
Der Saal lächelt. Romain Vidal hat sich den Ruf eines angenehmen Vortragsredners erworben, der auf seine Hörerschaft Rücksicht nimmt. Für ihn ist das auch ein Mittel, sich nicht selbst zu langweilen. Das Zögern beim Namen Michaux ist leicht geflunkert. Louise hat ihm vor Jahren schon einen Trick der Rechtsanwälte beigebracht: »Wenn du den Gerichtssaal fesseln willst, mein Liebling, musst du ihm von Zeit zu Zeit was Amüsantes bieten. Bring ein Flaubert-Zitat, einfach so, ganz beiläufig, aber stets an passender Stelle. Oder zitier Dostojewski oder Borges. Das lässt sich nicht aus dem Ärmel schütteln, mein Schatz, da muss man lange dran arbeiten, damit es natürlich wirkt. Sie werden dich nie wieder vergessen. Selbst wenn sie nichts von deinem Plädoyer behalten haben, an den Satz von Flaubert werden sie sich erinnern. Und tisch denselben Leuten nicht zweimal denselben Autor auf. Sonst werden sie dich mit dem größten Vergnügen einen alten Schwafler nennen.«
– Seit jeher, fährt Romain fort, beschäftigt uns die Frage nach der Sprache der Tiere. Wir sagen »Sprache«, »Tier«, »wir«, und jedes dieser Wörter ist Träger eines Konzepts. In der Genesis ist Adam der Einzige, der die Dinge benennen kann. Aber benennt auch das Tier die Dinge? Wenn dem so sein sollte, dann ist der Mensch nicht mehr das einzige Lebewesen, das spricht, dann ist er nicht mehr der Einzige, der die Welt entziffert. Welchen neuen Platz nimmt er in ihr ein? Wenn die Biologie Fortschritte macht, wirft sie ethische, philosophische, politische Fragen auf. Die Genetik der Sprache wirft eine phänomenale Menge an Fragen auf. Ich werde auf die Vögel, die Primaten oder die Delfine zu sprechen kommen, mich zunächst aber mit dem Menschen beschäftigen, der der einfachste Gegenstand ist, paradoxerweise gerade deswegen, weil seine Sprache am weitesten entwickelt ist. Es dürfte uns sehr viel schwererfallen, Sprachstörungen beim Tier festzustellen, und doch gibt es gewiss stotternde Schimpansen und legasthenische Delfine …
»Suche nach einem Scherz niemals den Effekt auszukosten«, auch dies ein Rat von Louise. »Keine Unterbrechung, trink lieber einen Schluck Wasser.« Romain hebt das Glas an seine Lippen.
– Manche Menschen haben mit dem Sprechen Probleme pathologischen Ursprungs. Diese »spezifische Sprachstörung« ist nicht Ausfluss einer geistigen Zurückgebliebenheit. Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts hat man die Genealogie einer pakistanischen Familie aus dem Londoner East End untersucht, deren Mitglieder zum großen Teil Schwierigkeiten mit der Artikulation oder der Ausformulierung zusammenhängender Sätze hatten und manchmalgar die Laute nicht auseinanderhalten konnten. Man konnte bei ihnen eine Deformation eines kurzen Segments auf dem Chromosom 7 feststellen, des Gens FOXP2. Wobei FOXP2 für »forkhead box P2« steht, das heißt für ein Protein, dessen Charakteristikum darin liegt, dass es über eine Sequenz von gut Hundert Aminosäuren verfügt, die sich der DNS in Schmetterlingsform anbindet. Auf diesem Dia sieht man in Rot die Stelle der Mutation auf dem Exon 14. Das Guanin eines Nukleotids ist ersetzt durch ein Adenin.
Dieses FOXP 2-Gen spielt bei der Sprachhervorbringung aller Tiere eine entscheidende Rolle. Es übernimmt die Stelle eines »Dirigenten«, wenn sich während der embryonalen Entwicklung die neuronalen Bahnen etablieren. Eine genetisch modifizierte
Knockout -Maus
, bei der man das Gen FOXP2 manipulierte, würde nicht mehr wie eine Maus piepsen, sondern eher wie eine Fledermaus im Ultraschallbereich. Ich verweise hier auf die Arbeiten der Gruppe um Shu, Morrisey, Buxbaum usw. Dieses Gen codiert ebenfalls den Schluckmechanismus, die Motorik der Zunge usw.
Beim
Homo erectus
hat das FOXP2 vor zweihunderttausend Jahren eine radikale Mutation durchgemacht, das heißt kurz vor dem Auftreten des Neandertalers und unserer Vorfahren, Cromagnonmensch und
Homo sapiens
. Diese Mutation findet sich bei beiden Arten des
Homo
und stärkt somit Spekulationen um einen gemeinsamen Vorfahren. Aber das ist eine andere Debatte. Die Sprache erscheint also weniger als Werkzeug denn als Organ. Ein Organ, das unbedingt der Schulung bedarf. Seine
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