Kein Wort mehr ueber Liebe
der er nur kurz vorbeischauen wollte, spricht vom Inzestverbot, der Französischen Revolution, von Freud und vom Gesetz. Er tritt näher heran, hört ihr zu. Sie gefällt ihm sofort. Einige gehen zu Tisch, sie auch. Er folgt ihnen, er folgt ihr. Sie spricht noch immer, von der Kindheit, von der Krankheit, vom Tod, sie verwirrt ihn immer mehr. Es ist alles ganz klar. Wie soll man das Entstehen der Liebe erzählen? Die ewige Frage. »Ewige Frage« ist natürlich ein Klischee.
Aber er hat nicht aufgegeben. Zuerst, und sehr lange noch, stieß er sich an jedem Wort, jedem Satz. Als die Seite sich endlich mit Zeichen bedeckt hatte, formte sich unter seinen Fingern ein Gedicht mit einem festen, musikalischen Rhythmus, in dem er sich an sie wandte, in dem er sie duzte. Darüber wunderte er sich nicht. Es war die Evidenz der Form, die ihn weitertrug.
THOMAS UND YVES
Thomas Le Gall ist neugierig auf Louise, er ist neugierig und er hat’s eilig.
Sobald die Praxistür geschlossen ist, ruft er den Freund an, der ihn zum Abendessen bei Samy mitgenommen hatte, er dankt ihm einmal mehr. Gleichgültigkeit vortäuschend, versucht er mehr über Louise zu erfahren. Anscheinend war er nicht diskret genug. Er erntet ein ironisches Lachen.
– Du interessierst dich für die Frau von Romain Vidal?
Thomas verneint nicht, wechselt aber das Thema. Der Name Romain Vidal sagt ihm etwas. Nach einigen Klicks weiß er fast alles über den Ehemann von Louise Blum: Doktor der Biologie, Doktor der Linguistik, ein reputierter Forscher, ein guter Autor von populärwissenschaftlichen Werken, mehr als zweihunderttausend Einträge im Internet. Thomas tippt seinen eigenen Namen ein. Zehnmal weniger, nichts, worauf man sich etwas einbilden könnte. Ganz abgesehen davon, dass es auch einen Thomas Le Gall, Apotheker in Saint Malo, und Thomas Le Gall, Grundschuldirektor in Quebec gibt … Yves Janvier, wie viele Einträge? Fünfunddreißigtausend. Thomas macht den Computer aus, verlässt die Praxis.
In der Buchhandlung an der Place de la Contrescarpe liegtein ganzer Stapel von Yves Janviers Buch
Das zweiblättrige Kleeblatt
aus. Er befragt den Buchhändler. Dessen gänzlich unbeteiligter Tonfall – »Nicht schlecht« – beweist, dass er absolut keine Ahnung von dem Buch hat. Thomas kauft es, weil die Sonne scheint, weil es noch warm ist, setzt sich auf eine Terrasse am Ende der Rue Mouffetard, mit Blick auf den Springbrunnen, bestellt einen Kaffee.
Auf der Rückseite des Umschlags lächelt Janvier dem Fotografen nicht zu. Das Gesicht ist ein bisschen rundlich, aber lange vertikale Falten auf den Wangen und der Stirn brechen den Eindruck von Weichheit. Über der Stirn ist das helle Haar dünner. Der Mann hat eine Visage, in der sich Rauheit und Sanftmut mischen. Nie wäre Thomas auf die Idee gekommen, dass er Annas Typ sein könnte.
Das Zweiblättrige Kleeblatt
ist alles andere als ein russischer Roman. Kaum hundert Seiten: eher eine Novelle, lebendig erzählt, in zwölf kurze Kapitel eingeteilt. In weniger als einer Stunde hat er sie gelesen. Anna Stein hatte den Inhalt gut zusammengefasst: Bei nur zeitweilig unterbrochenem keltischem Regen sieht sich ein Mann der Kälte einer jungen Geliebten und der gleichgültigen Feindseligkeit eines geliehenen Toyotas ausgesetzt. Abgeschmackte Grausamkeit, gefällige Sparsamkeit der Mittel, einige wenige sprachliche Einfälle. Ist es das Licht, der sich in die Länge dehnende Sommer, das Bitter-Süße des Kaffees? Dieses Buch hat ihn auf befreundetes Gebiet versetzt. Wenn Louise die Cousine von Anna ist, dann, so ahnt Thomas, ist Yves nicht weit davon entfernt, sein eigener Bruder zu sein. Sicher, zwischen ihnen steht Anna. Yves besser kennenzulernen, scheint ihm keine unerlaubte Einmischung zu sein. Lacan hat nie gezögert,mit den Ehepartnern, ja sogar den Müttern seiner Patienten Kontakt aufzunehmen. Das war schon heftiger. Aber dieses Beispiel taugt nicht als Argument.
Thomas nimmt seine Brille ab. Seit einigen Jahren ist sie seine treue Begleiterin. Wenn die Philosophie darauf abzielt, den Tod zu domestizieren, leistet die Altersweitsichtigkeit ihr dabei tägliche Unterstützung. Er betrachtet das feine Gestell aus Schildpatt, den Lichtreflex der Gläser, ohne zu bemerken, dass er dabei eine Grimasse zieht.
Thomas steht auf, und sein Blick verliert sich einen Augenblick im sprudelnden Wasser des Brunnens. Das Handy klingelt, ein Vorname erscheint, eine alte Freundin, mit der er gewisse Abende gerne in
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