Kein Wort mehr ueber Liebe
gibt sich Annas jüngerer Bruder gerne hart und furchtlos, aber sein Daumen, der am Zeigefinger entlangreibt, verrät die Angst. Stan betrachtet am Bildschirm die beiden Angiografien: Ein dunkler, stumpfer Fleck in der Mitte der linken Netzhaut lässt keinerlei Zweifel zu. Der Chirurg antwortet nicht, vergrößert das Bild, geht die Narbe entlang. Er sucht nach einem beruhigenden Satz. Aber nichts hat mehr Ähnlichkeit mit einem Fuchs-Fleck als ein anderer Fuchs-Fleck.
Scheiße, denkt Stan, Scheiße, Simon, du bist zu bescheuert, wirklich zu bescheuert, immer den Starken spielen zu wollen, das Alphamännchen, und immer bis zum letzten Augenblick zu warten, du hättest mich früher anrufen müssen, hättest gleich vorbeikommen sollen, jetzt ist diese Netzhaut im Eimer, am Arsch, und selbst wenn kaum noch was drin gewesen wäre, mit der Mikrochirurgie hätte ich’s versuchen können, irgendwas, dir wenigstens ein, zwei Dioptrien retten können, das ist gar nicht so schlecht, zwei Dioptrien, besser als blind, Bruderherz, und was soll ich dir jetzt noch vonder rechten erzählen, denn das sieht nicht gut aus, wirklich nicht gut aus mit dieser ersten lokalen Blutung auf der linken Netzhaut, und lass mich mal genauer die rechte Netzhaut ansehen, oh Mann, das ist Wahnsinn, da hast du auch eine leichte Gefäßschwäche, da, ganz nah am Sehnerv, etwas zu geschwollen diese Sauerei, deine Chancen stehen eins zu vier, oder seien wir großzügig, sagen wir eins zu acht, dass deine andere Netzhaut in zehn Jahren über die Wupper ist, damit stehen unsere Chancen eins zu drei oder zu vier, dass du mit fünfzig Lenzen nicht mehr sehen kannst, Mann, Simon, was soll ich dir da sagen, was soll ich dir sagen, lern Blindenschrift, mach dich wieder ans Klavier?
Stan setzt sich langsam auf die Ecke seines Schreibtischs und lächelt Annas Bruder freundlich an:
– Also gut, Simon … Keine Panik. Guck dir diese farblose Stelle auf deiner linken Netzhaut an: Das nennt man Fuchs-Fleck. Ein ziemlich seltenes Phänomen, das sich bei stark Kurzsichtigen wie dir einstellt – oder mir: Schau, ich bin bei minus 8, das ist fast genauso viel. Ich erklär’s dir: Da das Auge des Kurzsichtigen zu dick ist, übt es einen dauerhaften mechanischen Druck auf die Netzhaut aus, und wenn der Druck zu stark wird, kann es passieren, dass ein Haargefäß platzt. Genau das ist geschehen. Da es sich hier um ein dickes Gefäß handelt, eine kleine Arterie, hier siehst du sie, hat die Hämorrhagie die Makula zerstört, das heißt die Stelle, an der das Auge fokussiert.
– Geplatzte Haargefäße, das nenne ich eine Pechsträhne, witzelt Simon.
Stan schaut immer noch auf den Bildschirm, er hat das ironische Wortspiel nicht gehört.
– Dies erklärt das zentrale Loch in deinem Gesichtsfeld. Die gute Nachricht ist, dass es nicht größer werden wird, die Sache beginnt zu kauterisieren. So was wächst niemals wirklich weiter.
– Kann es wieder besser werden, heilt das von alleine?
– Es ist schon geheilt, Simon. Das Auge hat sich selbst repariert, wenn man das überhaupt so sagen kann. Es hat eine Narbe gebildet, und jetzt sind die sensiblen Zellen, die nicht mehr mit Blut versorgt wurden – du weißt schon, die Stäbchen und die Zapfen –, abgestorben.
– Aber … Kann man da nichts mit dem Laser machen, Stan? Anna sagt, dass du der beste Augenchirurg in ganz Frankreich bist, dass du wahre Wunder vollbringst, dass deine Patienten von überall her kommen, aus New York, aus Buenos Aires …
– Warum nicht gleich aus Schanghai? Deine Schwester ist wirklich unglaublich … Ja, es stimmt, man kann die Sache behandeln, indem man zuerst Verteporfin injiziert und dann mit dem Laser arbeitet, aber das funktioniert nur in den ersten Stunden oder auch noch ersten Tagen. Hier sind’s jetzt schon drei Wochen, die Sache ist definitiv vernarbt … Aber wie auch immer, Simon, ich wäre das Risiko mit dem Laser nicht eingegangen, das Mittel wäre schlimmer als das Übel gewesen. Siehst du diese grün fluoreszierende Zickzacklinie dort? Das Gefäß ist zwei Millimeter neben dem Sehnerv gerissen. Das ist so nah, dass der Laserstrahl ihn hätte treffen können.
– Und eine Netzhautverpflanzung? Geht das nicht …?
– Stammzellen? Hör zu, Simon, ich will kein Pessimist sein, aber in meinem Labor verfolgen wir die Fortschritte sehr genau. Im Augenblick sehe ich da noch nichts. Vor dennächsten zehn, vielleicht sogar zwanzig Jahren ist da nichts zu erwarten. Ich werde
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