Kein Wort mehr ueber Liebe
der Erste sein, der in Frankreich eine solche Operation vornehmen wird, das schwöre ich dir. Das Einzige, was man derzeit tatsächlich verpflanzen kann, sind Netzhautzellen bei Mäusen. Aber diese blöden Dinger wissen nicht, wie man sich verzweigt, um sich an den Sehnerv anzuschließen. Du wirst lernen müssen, damit zu leben. Auf dem linken Auge wirst du das äußere Gesichtsfeld behalten, und selbst wenn dies am Anfang eine Behinderung ist, wirst du dich, da das rechte Auge korrigiert, daran gewöhnen. Vor allem aber, Simon, markierst du jetzt nicht mehr den starken Mann und wartest zwei Wochen, bevor du zum Arzt gehst. Sobald du die kleinste Deformation an deinem Gesichtsfeld wahrnimmst, Verwischungen, blinde Flecken, Farbveränderungen oder Lichtblitze, rufst du mich an und kommst schleunigst zu mir ins Rothschild oder ins Quinze-Vingts. Und sollte ich nicht da sein, man kann nie wissen, fragst du mit einem Gruß von mir nach Herzog. Er ist sehr gut. Und außerdem, weißt du was? Geh zu ihm. Um eine zweite Meinung zu hören. Ich wäre deswegen nicht beleidigt, ich kann mir vorstellen, was du im Moment durchmachst.
– Nein, Stan, ich werde ihn nicht belästigen, ich vertraue dir.
– Ich bestehe darauf: Geh zu Herzog. Ich will auf keinen Fall, dass du glaubst, ich wolle dich beruhigen, nur weil du der Bruder meiner Frau und ein Freund bist.
– Danke. Ich verstehe. Aber ich werde nicht hingehen. Und … Gibt es da keine Diät, die man befolgen muss? Oder irgendwelche Dinge, die man einnehmen muss? Um die Netzhaut zu unterhalten? Lusein? Ich habe gehört, dass …
– Lutein. Geh den ganzen parapharmazeutischen Produkten aus dem Weg … Wenn du unbedingt Lutein haben willst, findest du davon genug im Spinat, in Kiwis, ganz generell in allem, was grün ist … Damit kannst du dich ruhig vollstopfen. Und iss eine Schachtel Waldbeeren für die Nachtsicht, wie die Flugpiloten. Das hilft.
– Gibt es wirklich keine vorbeugende Behandlung? Ich kann nichts tun?
– Nichts. Vermeide Kraftsportarten, Fußball, Squash, Gewichtheben, alles, was den Augeninnendruck kurzfristig erhöht. Nimm ein bisschen ab, fahr Rad, geh wandern, das hat noch niemandem geschadet. Aber wie auch immer, du bist fünfunddreißig Jahre alt, mit hohem Blutdruck hast du noch nichts zu schaffen.
Simon sagt nichts. Er schließt das rechte Auge, starrt gerade vor sich hin. Er streckt den Arm aus, sieht, wie seine Hand verschwindet, von dem grauen Abgrund verschluckt wird, den der Fuchs-Fleck ins Zentrum seines Gesichtsfelds gegraben hat. Er lässt den Kopf nach hinten kippen, holt Luft … Stan packt ihn bei den Schultern.
– Simon … Es ist alles in Ordnung.
– Mir zerquetscht’s die Brust, es ist fürchterlich, ich kann kaum noch atmen … Wenn mir das jetzt auch mit dem rechten Auge passiert, kann ich nicht mehr arbeiten, nicht mehr lesen, ich werde nie mehr Nadines Gesicht sehen, die Gesichter meiner Kinder, ich …
– Sei ganz ruhig, deiner rechten Netzhaut geht’s sehr gut. Ich weiß, dass du auf beiden Augen gleich kurzsichtig bist, aber es hat keinen Zweck, sich zu ängstigen. Das Risiko einer Bilateralisierung …
– Das Risiko einer was?
– Das Risiko derselben Störung auf dem anderen Auge … Es ist sehr gering.
– Wie gering? Entschuldige, wenn ich nachhake, Stan, aber heißt das eine Chance von eins zu hundert, eins zu zehn, eins zu zwei?
– Ich versichere dir, dass dies sehr selten auftritt. Niemand hat verlässliche Statistiken. Ich habe Hunderte von Patienten mit einem Fuchs-Fleck auf dem einen Auge, aber so gut wie niemand ist auf beiden Augen davon befallen.
Stan lügt. Jeder Tag hat seine Plage.
– Ich werde dir etwas verschreiben. Ein Anxiolytikum. Ich möchte, dass du es nimmst; ich habe noch keinen Patienten erlebt, der nicht eine Phase der Depression durchlaufen hätte. Das ist normal. Ein Auge zu verlieren, das ist ein sehr herber Schmerz, und zu irgendwas ist die Chemie ja gut. Ich kann dir sogar einen Analytiker empfehlen.
– Ach, nein, empört sich Simon.
Stan lächelt und drängt nicht weiter darauf.
– Hör zu, Simon, ich sehe, dass ein Termin abgesagt worden ist, schauen wir uns den Druck im rechten Auge genauer an, wenn du dir Sorgen machst, und anschließend gehen wir in die Krankenhauskantine zum Mittagessen. Vielleicht gibt es ja Kiwis …
Kiwis gibt es genug. Simon isst gleich drei davon.
Am Abend hat Stan Bereitschaftsdienst im Quinze-Vingts. Anna ruft ihn an, ist beunruhigt. Stan
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