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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herve Le Tellier
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habe einen Mann getroffen, Romain, ich habe mit ihm . Aber was zählt, ist, glaube ich, nicht die Person, sondern dass ich Lust hatte, haben konnte, ihm zu begegnen. Das hat mich überrascht, es hat mich überrascht, wie wenig Schuld und Scham ich dabei empfand. Ich war ganz einfach glücklich wie ein zwanzig fünfzehn Jahre altes Mädchen ein Backfisch bei seinem ersten Rendezvous.
    Wir sind jetzt zehn Jahre zusammen, Romain. Ich empfinde so viel Zärtlichkeit. Du bist mit den Jahren mein besterFreund geworden, fast schon ein Bruder. Aber ein Bruder kannst Du natürlich nicht sein. Das ist sinnlos hat keinen Sinn mehr. Manchmal liege ich nachts neben Dir, ich berühre Deine Haut, wünsche mir Zärtlichkeit, manchmal auch Sex, aber ohne Dich wirklich zu begehren. Ich bin vierzig, werde es in ein paar Monaten sein. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Dich betrüge dass ich Lust auf einen Mann anderen Mann habe. Es ist in der Tat das erste Mal, dass mich nichts zurückhält, dass ich nicht einen Augenblick lang in Erwägung ziehe, ihn nicht mehr zu sehen.
    Romain, ich möchte Dir ich möchte ich muss

    Louise schließt die Datei, ohne sie abzuspeichern, schaltet den Computer aus. Sie wird keine Worte finden, um diese Hingabe zu beschreiben, die Thomas von ihr empfangen hat, vor allem darf sie keine Worte dafür finden. Sie würde es gern mit einem Bild versuchen, dem Fenster, das eine heftige Windböe aufstößt, dem Zucker, der sich im Kaffee auflöst, aber es geht um Körper, um Nacktheit, um Begierde und um eine brutale Evidenz, die sich eingestellt hat, ohne dass sie ein Wort hätte einwenden können. Ja, das ist es, sagt sie sich. Ich hatte kein Wort zu sagen. Sie lächelt bei dem Gedanken an die Schlussfolgerungen, die Thomas aus diesem ihrem Wortgebrauch ziehen würde.
    Sie ist verliebt, sie hat Hunger auf etwas Süßes, sie isst eine getrocknete Aprikose, dann noch eine. Plötzlich ist sie wirklich müde. Sie wartet nicht länger auf Romain und legt sich schlafen. Sie ist nicht schuldig, denn, so sagt sie sich immer wieder ganz entzückt, sie hatte kein Wort zu sagen. Sie schläft gleich ein.

THOMAS UND LOUISE
    Es ist spät. Der Donnerstagabend-Patient ist gegangen, Thomas wirft einen Blick auf
Le Monde
, liest mit Bitterkeit das Datum. Morgen ist es sechsundzwanzig Jahre her, dass Piette gestorben ist. Auf dem Foto, das Thomas immer auf seinem Schreibtisch stehen hat, lächelt sie, liegt sie ausgestreckt auf dem Bett, vor ihr verstreute Notizblätter. Sie ist im vierten Monat schwanger. Einige Wochen später wird sie das Kind verlieren, ein Jahr später bringt sie sich um. Auf die Rückseite des Fotos hat Thomas eine
Canzone
aus der
Vita Nuova
geschrieben, die blaue Tinte verblasst nach und nach:

    Si che volendo far come coloro
    che per vergogna celan lor mancanza,
    di fuor mostro allegranza,
    e dentro da lo core struggo e ploro.

    Und wollte ich so sein wie jene,
    die aus Scham verstecken, was ihnen fehlt,
    so zeigte nach außen ich mich heiter,
    doch tief im Herzen weint’ ich vor Schmerz.

    Manche Werke sind so strahlend schön, dass wir uns für das armselige Leben schämen, in das wir uns schicken, sie beschwören uns, ein anderes Leben zu führen, weiser und erfüllter, es sind so kraftvolle Werke, dass sie uns Mut einflößen, uns auffordern, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ein einziges Buch kann diesem Zweck bereits genügen. Für Thomas ist es
La Vita Nuova
, in dem Dante um seine Beatrice weint. Ein Freund hat es ihm kurz nach Piettes Tod geschenkt. Aber Thomas glaubt nicht daran, dass seine Piette in einem zukünftigen Leben auf ihn wartet. Er zweifelt im Übrigen daran, dass in der unendlichen Vielzahl der Welten nach Lewis ein friedliches Universum existiert, in dem eine fröhliche Piette ihren gemeinsamen kleinen Jungen geboren hätte.
    Zwei weitere Fotos stehen auf dem Schreibtisch: In dem größeren der beiden Rahmen sieht man seine Töchter Alice und Esther: Sie sind fünf und sieben Jahre alt und sitzen auf Ponys, daneben ihre Mutter. Das Scheidungsverfahren läuft schon. Auf dem letzten Foto, einem Schwarz-Weiß-Bild, sind drei Männer abgelichtet. Bei zwei von ihnen handelt es sich tatsächlich um Lacan und Barthes. Der Jüngste, in der Mitte stehend, trägt stolz das dichte, schwarze Haar eines jungen zwanzigjährigen Mannes zur Schau; er lächelt, hat einen dicken Aktenordner in der Hand. Es ist Thomas, und ihn erkennt man heute am wenigsten. Piette hat das Foto im Januar 1978

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