Kein Wort mehr ueber Liebe
Wort »weil« zu verbannen. Es ist nicht seine Rolle, zu bestimmen, was Ursache und was Wirkung ist. Er beschränkt sich auf Feststellungen. Manchmal gibt er nur wieder, was gesagt worden ist. Als sie ihm während einer Sitzung ihr Herz ausschüttet:
– Wenn ich zu Yves gehe, werde ich das Leben haben, von dem ich träume …
hat Thomas wiederholt:
– Ja, das Leben, von dem Sie träumen. Sie träumen.
Sie hatte Le Gall schon gesagt:
– Stan hat aus mir eine Mutter gemacht, Yves hat aus mir eine Frau gemacht.
Le Gall nennt so etwas »Formelisierung«, eine Art und Weise, das Leben in Aphorismen zu setzen, es im Satz erstarren zu lassen. Das taugt, was es taugt. Anna liebt es so sehr, »die richtigen Worte gefunden« zu haben. Aber heißt Worte finden auch verstehen? Die Tiere brauchen keine Worte. Le Gall zweifelt gelegentlich an der Philosophie der Sprache, aber an der Philosophie zu zweifeln, und sei es auch die der Sprache, heißt das nicht, wirklich Philosophie zu betreiben?
STAN UND YVES
Das Mäzenatentum ist gut für das Image einer Firma, und die Kosten lassen sich von der Steuer absetzen. Aus diesen beiden Gründen hat ein Unternehmen aus der Wasserwirtschaft ein Stadtpalais im Marais in den Rang eines Kulturzentrums erhoben, die Pension Heisberg. Es finanziert dort Konzerte, Symposien und Ausstellungen. Im Auditorium der Pension Heisberg sind an diesem Abend drei Schriftsteller zu Gast. Sie halten eine gemeinsame Lesung zum politisch korrekten Thema »Fremde«. Ihre drei Originalbeiträge, alles Auftragsarbeiten, werden in einer limitierten und nummerierten Auflage der
Carnets Heisberg
auf Vergé-Papier im Oktavformat erscheinen.
Stan kommt zu spät, er hatte noch einen Notfall zu behandeln, eine Keratitis. Er hat schon lange keiner Lesung mehr beigewohnt. Aber die Kinder schlafen bei den Schwiegereltern, Anna ist zu einem psychoanalytischen Seminar in der Rue de Verneuil gegangen, und die Neugier war einfach zu stark. Er hat sein Fahrrad in der Nähe des Picasso-Museums angekettet und ist bis zur Stiftung gelaufen.
Die junge blonde Brillenträgerin hinter dem kleinen Büchertisch hat ihm fast schon im Flüsterton geantwortet:
– Ja, Monsieur, es hat schon angefangen. Ja, es gibt noch ein paar freie Plätze. Nein, Yves Janvier hat noch nicht gelesen, er ist der letzte Redner. Sie können den oberen Eingang nehmen, ohne Lärm zu machen.
Es wird geklatscht, Stan stößt die Tür auf und nimmt, sobald er kann, ganz oben im Auditorium Platz. Auf der Bühne steht ein Mann, es ist Janvier. Er liest:
– 1. Guten Tag. Der Titel des Textes lautet »Nachrichten von Fremden«, obwohl er der Kategorie »Nachricht« fremd ist. 2. Nachrichten von Fremden umfasst 78 Einträge, was eine räsonable und wohlbedachte Menge ist, und die Spielregel besteht darin, dass in jedem Satz das Wort »Fremden« verwendet werden muss. 3. In bestimmten Fällen kann das Wort »Fremden« auch durch »Fremder«, »Fremde« oder »Fremd-« ersetzt werden. 4. Das Wort kann im Plural oder im Singular erscheinen. 5. Jeder, der zwischen diesen Kategorien nicht unterscheiden kann, hat gute Chancen, einer dieser Fremden zu sein. 6. »Fremden«
kann also ein flektiertes Adjektiv oder ein Substantiv sein, aber in keinem Falle ein schwaches und regelmäßiges Verb. 7. Wenn es das schwache Verb »fremden« gäbe, müsste es folgendermaßen konjugiert werden: Ich fremde, du fremdest, usw. 8. Was soll man wohl »fremden« können? Ich weiß es nicht. 9. Und warum sollte dieses Verb
das ist also der kerl und der kerl da anna du hast gesagt er hat mich verwirrt du hast sogar gesagt mehr als mich jemals irgendein mann verwirrt hat das heißt seit dir seit wir uns begegnet sind seit unserer hochzeit aber schau ihn dir doch an was soll denn an ihm dran sein an diesem yves janvier ist gar nicht mal so jung schon etwas kahl ja groß ist er das stimmt
überhaupt transitiv sein? Intransitiv hat »fremden« indes eine zu starke Ähnlichkeit mit »fremdeln«. 10. Im Exodus (23,9) steht geschrieben: »Die Fremden sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremden Herz, dieweil ihr auch seid Fremde in Ägyptenland gewesen.« 11. Ein letztes Zitat: »Ich bin ein Mensch, und nichts Menschliches ist mir fremd.« Der Satz stammt von Terenz (185 v. Chr.–159 v. Chr.); ich habe ihn in ein kleines gelbes Heft geschrieben, als ich dreizehn Jahre alt war.
aber nicht größer als ich älter ist er falten tränensäcke unter den augen vielleicht
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