Kein Wort mehr ueber Liebe
Jahre vergangen – hatte er an ihrer Tür geläutet, mit einem Koffer in der Hand. Er hatte sich mit seiner Lebensgefährtin zerstritten, er stand auf der Straße. Anna war in der Normandie, Stan hatte geöffnet. Er wusste nicht, was er dem Mann auf dem Treppenabsatz sagen sollte: Er kannte ihn nicht, Anna hatte ihm nie von irgendeiner Einladung erzählt, und unterdessen war Karl geboren; das Gästezimmer war inzwischen sein Kinderzimmer. Stan hatte Hugues hereingebeten, dann Anna angerufen. Sie hatte ihrem alten Freund die neue Situation erklärt. Hugues hatte kein Aufhebens davon gemacht, er war ins Hotel gezogen, trotz Stans Angebot, ein Feldbett in seinem Arbeitszimmer aufzuschlagen.
Als sie Yves diese Anekdote erzählte, schwang etwas Nostalgie in ihrer Stimme mit. Sie hatte sich von Hugues entfernt, bedauerte sie, das wäre die Gelegenheit gewesen, einander anders kennenzulernen, eine echte Freundschaft zu knüpfen. Aber sie hatte gesagt:
– Wirklich schade. Wenn Hugues bei uns zu Hause geschlafen hätte, hätten wir eine neue Beziehung haben können.
Yves hatte über die Doppeldeutigkeit gelacht. Er weiß, dass Anna für »Liebe machen« fast immer »eine Beziehung haben« sagt.
ANNA UND THOMAS
Anna hat nie Buch geführt über ihre Sitzungen mit Le Gall, aber Le Gall schreibt oben auf sein Blatt die Zahl 1000. Das ist viel. Du hättest dir einen kleinen Porsche mit einigen Extras leisten können, hatte Yves ausgerechnet. Falsch: Thomas hat ein kleines Haus in Italien abbezahlt, in einem Dorf in der Nähe von La Spezia.
Anna weiß, wovon sie reden möchte, von Simons Gefäßschaden. Die Aussicht, dass ihr Bruder eines Tages erblinden könnte, hat sie zutiefst erschreckt. Sie spricht von Simons Frau, von seinen Kindern. Schließlich gesteht sie, welchen Angstgefühlen sie ausgesetzt wäre, wenn sie sich nicht mehr vom Blick eines geliebten Mannes erfasst fühlte, wenn sie aus seinen Augen verschwände, wenn dieser Spiegel, den sie so sehr braucht, zerbräche. Der Egoismus ihrer Selbstliebe erfüllt sie mit Scham.
Sie will auch von einem Lapsus erzählen, der ihr am Vortag unterlaufen ist. Sie ging mit Karl und Léa spazieren, Yves begleitete sie, sie gehen zum ersten Mal alle zusammen essen. Wenn die Kinder dabei sind, ist Yves niemals ein Liebhaber, sondern ein »Freund«. Anna konnte sich noch nicht dazu durchringen, ihnen zu sagen, welchen Platz er in ihremLeben einnimmt, Yves zweifelt oft daran, dass sie es jemals schaffen wird. Sie hütet sich vor jeder zärtlichen Geste, jeder Art Aufmerksamkeit. Karl läuft voraus, springt von Pflasterstein zu Pflasterstein, Léa schlüpft zwischen sie beide, nimmt sie beide bei der Hand und lässt sich schaukeln, wobei sie vor Freude jauchzt. Die spontane Zuneigung, die Léa von Anfang an für Yves gezeigt hat, stürzt Anna jedes Mal in Verwirrung: Ihre Tochter könnte in diese nicht ausgesprochene, uneingestandene Verbindung einwilligen, dem Liebhaber ihrer Mutter einen Platz einräumen. Plötzlich lässt Léa sie los und rennt zurück, um die Auslagen in einem Spielwarengeschäft zu betrachten. Da schimpft Anna mit ihr:
– Wir sind spät dran, wir haben Hunger. Beeil dich, Nora!
Nora? Anna wendet den Blick ab, ist aus der Fassung gebracht, fängt sich wieder:
– Schneller, Léa!
Nora. Sie kann es nicht fassen. Sie hat ihre Tochter beim Vornamen ihrer jüngeren Schwester gerufen, und schon ist sie wieder zurückversetzt in die Kindheit, die Zeit, als sie mit ihrem Vater, ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihren Brüdern spazieren ging. Léa ist das ziemlich egal. Sie beschleunigt ihre Schritte.
Den ganzen Abend hat Anna über diesen Lapsus nachgedacht. Sie hat eine Erklärung gefunden, die sie Yves schon gegeben hat und die sie jetzt Le Gall unterbreitet.
– Ich schaffe es nicht, Mutter zu sein, wenn ich mit Yves zusammen bin.
– Mmmh. Aber dabei sprachen Sie gar nicht mit Yves.
– Nein.
– Sie sprachen mit Léa, nicht wahr?
– Ja.
– Also ist es vielleicht auch so, dass Sie es vor Léa und Karl nicht schaffen, Frau zu sein. Dass Sie es sich versagen.
Anna schweigt. Le Gall hat soeben ihren Blick auf die Szene umgekehrt, den Sinn des Lapsus ins Gegenteil verkehrt. Sie fühlt, dass er richtigliegt.
– Vielleicht versuche ich, sie zu beschützen.
– Oder sich selbst zu beschützen. Le Gall interveniert nur selten. Er tut es jedes Mal, wenn er eine andere plausible, ebenso fruchtbare Assoziation erkennt. Er versucht, aus seinem Vokabular das
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