Kein Wort mehr ueber Liebe
einem anderen Tag wiederum, da sie zu wenig Zeit hat, um heraufzukommen, sie »nicht in fünf Minuten Liebe machen will«, geht er hinunter und steigt zu ihr ins Auto. Sie schlägt vor, nur schnell etwas im Café gegenüber zu trinken. Sie zückt ihren karminroten Lippenstift, bemalt sich die Unterlippe, drückt die Lippen aufeinander, betrachtet das Ergebnis im Rückspiegel. So gerüstet, schaut sie ihn an.
– Soll ich mir auch die Augen schminken?
Er findet sie perfekt. Sie fügt hinzu:
– Romy Schneider schminkte sich immer, wenn ihr Mann ihr vorschlug, auszugehen. Auch wenn sie nur im Restaurant unten an der Ecke zu Mittag aßen.
Spiegel sind wichtig. Yves hat drei davon: den großen über dem Kamin im Wohnzimmer, den kleinen über dem Waschbecken im Badezimmer und einen letzten in ganzer Höhe an einem Schrank im Schlafzimmer, wo man sich von Kopf bis Fuß sieht. Wenn Anna nach Hause gehen muss, spielt jeder seine Rolle. Zuerst überprüft Anna im Badezimmer jedes einzelne Detail, dann rückt sie im Schlafzimmer ihre Silhouette zurecht, und schließlich schreitet sie im Wohnzimmer zur Generalinspektion.
Er fragt sich, ob diese Koketterie eines Tages ein Trennungsgrund sein könnte. Doch hat Annas Vater schon Recht: Man verliebt sich in die Fehler. Yves weiß das: Bei sich zu Hause hat er eine Wandleuchte, die er bei einem befreundeten Bildhauer in Auftrag gegeben hatte. Als er das Werk in Empfang nahm, war er zuerst enttäuscht. Die Wandleuchte missfiel ihm zwar nicht, aber sie war anders, als er sie sich vorgestellt hatte. Heute ist es gerade das, was ihm auch an ihr gefällt. Sie ist unübersehbar, greifbar und präsent an der Wand. Er will auch keine Frau, die sich nicht von der Umgebung abhebt. Im Übrigen ist Anna alles, nur keine Zierleuchte.
Anna schwankt zwischen zwei Kleidern, einem kurzen, grün und rosafarben, ganz im Courrèges-Stil der siebziger Jahre, und einem längeren, grau-rot, etwas braver. Die hübsche blonde Frau neben ihr steht vor demselben Dilemma.
– Das ist wirklich sehr hübsch, sagt Anna, die gerade das kürzere Kleid anprobiert, aber das kann ich nicht zur Arbeit anziehen, und ich würde mich nie trauen, damit auszugehen.
– Dann nehme ich es, sagt Louise lachend, ich ziehe es im Justizpalast an, unter meiner langen schwarzen Robe.
ANNA UND YVES
In manchen Nächten, wenn Stan im Quinze-Vingts Bereitschaftsdienst hat, besucht Yves Anna in der Rue Érasme, nachdem sie ihre Kinder zu Bett gebracht hat. Sie bereitet für sie beide ein Abendessen zu, verbringt den Abend in seinen Armen und ist dabei stets ängstlich, Karl könne aufwachen und sie eng umschlungen überraschen.
Eines Abends nimmt Anna Yves mit ins Schlafzimmer. Dort öffnet sie einen Schrank, holt drei staubige Schuhkartons heraus, die sie in die Küche trägt. Sie enthalten Hunderte von Fotos. Vor Yves, vielleicht für Yves, breitet sie ihr Leben aus. Lange Zeit hat sie diese Kartons nicht mehr geöffnet.
Er erkennt sie wieder in dem kleinen, brünetten Mädchen in Latzhosen, das mit seinem ganzen Gewicht auf einer Schaukel ins Blau des Himmels schwingt, in dem jungen Backfisch, der, beinahe schon verliebt, mit seinem Vater tanzt. Auf einem anderen Foto sitzt sie im weißen Kleid in einem Boot, auf einem See in einem englischen Garten. Das Bild könnte aus den zwanziger Jahren stammen. Yves erkennt den Mann, der die Ruder hält. Es ist ein Schriftsteller:
– Ist das nicht Hugues Léger da neben dir?
– Ja, das ist er. Kennst du ihn?
– Nur flüchtig. Ich mag seine Bücher sehr, wir haben denselben Verleger.
– Wir waren ein Jahr lang zusammen. Seither sind wir Freunde geblieben. Ich kann ein Abendessen organisieren, magst du?
Sie gräbt weiter in den Kartons, holt Fotos von ihrer Hochzeit heraus, mustert sie, kommentiert sie. Yves geht durch den Kopf, dass Anna gerade vor ihm ein Inventar all dessen ausbreitet, was sie zu verlieren sich anschickt. Dass sie ihn gerade bittet, Worte zu finden, damit sie Mut schöpfen kann, all dem zu entsagen, was jedes einzelne Foto ihr vor Augen führt. Schau dir dieses mein Glück an, meinen Mann, mein Haus, meine Kinder, meine Eltern, schau hin. Es ist alles da, ausgebreitet auf diesem Küchentisch, Jahre des Lebens in verblassenden Farben, ich schenke sie dir, ich gebe sie hin für dich, mein Geliebter. Aber du, was hast du mir zu bieten? Sag’s mir.
Anna fürchtet, es niemals »zu schaffen«. Um sich selbst zu überzeugen, zitiert sie manchmal Jane Birkin,
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