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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herve Le Tellier
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»Fremder«:
»I’m a legal alien in New York«
, singt Sting. 61. Vier englische Fremde für einen französischen. Darin sieht man das ganze Unverständnis zwischen den Sprachen.
ich bin mir ist schlecht das herz zerspringt warum bin ich hergekommen wie konnte ich es nicht ahnen nicht begreifen nicht fassen anna warum tust du mir das an anna meine anna
    62. Alle Frauen meines Lebens waren, bevor sie die Frauen meines Lebens waren, Fremde. 63. Manche sind von Fremden im Laufe der Monate zu Vertrauten geworden. 64. Ich hätte es wahrscheinlich bevorzugt, wenn sie etwas fremder geblieben wären. 65. …
    Yves macht eine Pause, trinkt einen Schluck Wasser.
    In der Rue de Turenne kommt Stan am Wagen seiner Frau vorbei, ohne ihn zu erkennen, und hält ein Taxi an.
    Yves wendet sich einen kurzen Moment Anna zu, dann fährt er fort.
    – 65. Mir bleiben noch dreizehn Einträge, um unter dem Zeichen der Fremde von dir zu sprechen. 66. Was mir gefällt, ist aber nicht, dass du mir fremd wärest. 67. Ich glaube übrigens, dass du mir niemals ganz fremd warst. 68. Doch ich mag es, dass irgendetwas in dir widersteht, sich der Vertrautheit verweigert, unüberwindlich fremd bleibt. 69. Etwas, das dafür sorgt, dass ich mich in deiner Gegenwart immer am Fremden reiben werde, an etwas Geheimnisvollem und nicht Hinterfragbarem, etwas Hervorspringendem und Heiterem. 70. Etwas, das in der Liebe ein Äquivalent für die Farbe einer Fremdsprache in der Muttersprache wäre. 71. Ein »je ne sais quoi«, dieses französische Wort, das in fast alle Fremdsprachen eingegangen ist. 72. So sind mir deine Art zugehen, manche deiner Bewegungen augenblicksweise fremd. 73. Fremd die Wölbung deiner Brust, deiner Schultern. 74. Fremd, von Zeit zu Zeit, deine Stimme am anderen Ende der Telefonleitung. 75. Dein Parfüm, Bartgras, und dein Duft, hauchzart: fremd. 76. Die subtilen Windungen deines Denkens, die meinen eigenen Bahnen so fremd und doch klarer und lebendiger sind. 77. Es gibt im Französischen kein Wort, das den »Sachverhalt, ein Fremder zu sein« auf den Begriff brächte. Es gibt keine »étrangérité«. 78. Das Fremde in uns bewahren, das ist vielleicht das Geheimnis.
    Hier endet der Text. Yves ist es gelungen, die Stimme zu senken, den Rhythmus zu verlangsamen, um den Schluss deutlich zu markieren. Er verneigt sich, der Saal applaudiert, die Lichter gehen an, der Direktor der Pension Heisberg liefert noch ein paar Worte nach. Als das Publikum sich von den Sitzen erhebt, geht Anna auf Yves zu, sie steigt, fast schon rennend, die Stufen hinab, sie lächelt, sie reicht ihm die Hand.
    – Meine Fremde, sagt Yves.
    In der Rue Érasme zahlt Stan das Taxi. In diesem Augenblick erinnert er sich daran, dass er sein Fahrrad vergessen hat, das immer noch vor dem Picasso-Museum angekettet ist.

STAN UND ANNA
    Es ist sehr spät, als Anna nach Hause zurückkommt. Sie hat sich soeben von Yves verabschiedet. Sie fürchtet, seinen Geruch an sich zu tragen, obwohl Yves für die obligate Dusche ihre Seifenmarke besorgt hat, auf dass ein vertrauter Geruch sie vor Stans Neugierde schütze. Die Anregung dazu kam von ihr, doch die Umsetzung empfand sie als genauso ordinär wie heikel. Sie hat sich sehr sorgfältig eingeseift.
    Stan sitzt am Computer.
    – Du bist noch nicht im Bett?, wundert sich Anna.
    – Nein, ich habe in den
Archives of Ophthalmology
gelesen. Ich habe versucht, etwas über den Fuchs-Fleck herauszufinden. Ich habe auf dich gewartet.
    – Das brauchtest du nicht. Ich habe mit Sarah aus dem Seminar zu Abend gegessen.
    Stan sagt nichts. Annas Lüge war überflüssig. Er hätte keinerlei Fragen gestellt. Er starrt auf den Bildschirm, um nicht dem Blick seiner Frau begegnen zu müssen.
    Anna streicht ihm zärtlich übers Haar. Sie erinnert sich noch an den Augenblick, als man ihr vor zehn Jahren Stan vorgestellt hat. Der gemeinsame Freund hatte aus Spaß gesagt:
    – Sie, Monsieur Stanislas Lubliner, der Sie doch auf der Suche nach einer Ehefrau sind, ich stelle Ihnen Madame Anna Stein vor, die auf der Suche nach einem Ehemann ist.
    Anna hatte lachend protestiert, aber Stan sah sie an, drückte sanft, aber kräftig ihre Hand, ohne den Blick von ihr zu wenden, und sie hatte sofort gedacht, ja, dieser Mann könnte mein Ehemann sein, der Vater meiner Kinder. An jenem Tag schien es ihr, als ob sie ihre Zukunft vor sich sähe, als ob sie die Tür dazu aufgestoßen hätte.
    Stan war eine unvermeidliche Übergangslösung, eine Furt. Sie hat sich

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