Kein Wort mehr ueber Liebe
immer mit dieser Bank verbunden, mit dem Geruch des Kompotts in der Apfeltasche und dem Mandelgeschmack von Annas Küssen.
Zurzeit gibt es eine Baustelle in der Rue Buffon, der Wind trägt das Kreischen der Kräne bis hierhin. Stan mag diese Gespenstschrecken aus Stahl, die beweisen, dass das Leben weitergeht, dass die stets unvollendete Stadt sich noch regt, dass die Welt sich ändert. Durch eine Fensterscheibe kommt Luft von draußen herein, weht, frisch wie ein Winteranfang, durch sein Haar. Anna ist sicher schon im Krankenhaus angekommen, der Kies dürfte unter ihren Schritten knirschen,vielleicht geht sie schnell, Stan mag ihre Art zu laufen sehr, wie ein großer Flussvogel. Stan horcht auf das Geräusch des Wasserfalls, das Piepsen der Buchfinken, er beobachtet die Graskarpfen im Fischbassin, die reglosen Schildkröten. Ich liebe dich, Anna, denkt Stan, ich werde es dir sagen heute, heute Abend, du wirst mir zuhören und die Augen schließen. Ich will, dass du die Augen schließt.
YVES UND THOMAS
ANNA UND YVES
Auf dem Platz vor der Kirche hält Yves seiner älteren Schwester die Seite mit den Todes- und Geburtsanzeigen aus
Le Monde
drohend unter die Nase. Lise trägt ostentativ Trauer, der Hut mit kleinem Schleier, das schwarze Kostüm, der schwarze Mantel. Ihre Augen sind gerötet, sie schnäuzt sich unablässig und laut hörbar. Yves spricht gepresst, zwischen den Zähnen:
– Was soll das, Lise, dieses schwachsinnige Vigny-Zitat? »In der Stunde, da alles sich verdunkelt, werden wir von ihnen sprechen.«
– Das ist ein Vers aus den
Destinées
, antwortet Lise schroff. Wäre dir etwas Humoristisches von Desproges oder Pierre Dac lieber gewesen?
Yves zuckt mit den Schultern. Er fuchtelt mit der Zeitung.
– Und dieses »außergewöhnliche Paar«, wo nimmst du das her? Meinst du damit unsere Eltern?
– Ganz genau. Ich meine unsere Eltern, gibt Lise zurück. Ihre Stimme hinter dem Schleier ist zischelnd, ihre Aussprache feucht.
– Du weißt, was ich davon halte, Lise. Du weißt, was ich davon halte.
– Oh ja. Sehr genau. Ich weiß das sehr, sehr genau.
Sie wünschte, dass ihr Bruder Ruhe gäbe, aber sie ahnt, dass er seine ganze Wut herauslassen will, und so entfernt sie sich von dem Sarg, der gerade von vier schwarz gekleideten Männern in die Kirche getragen wird. Ganz so, als ob sie fürchtete, der tote Vater könne Yves noch hören. Er stapft ihr hinterher, verfolgt sie.
– Also, was willst du uns damit vormachen, mit diesem »außergewöhnlichen Paar«? Spielst du hier Disneyland, ist es das? Sie hat ihn nicht geliebt, sie hielt ihn für einen Vollidioten, das hat sie ihm gesagt, und wir waren dabei, sie ist ihm sein ganzes beschissenes Leben lang auf die Nüsse gegangen, und als sie gestorben ist, hat er die ganze Zeit nur um sie geweint.
– Sie ist unsere Mutter, du hast kein Recht …
– Ich habe jedes Recht. Auch schlechte Menschen kriegen Kinder.
– Du kannst sagen, was du willst. Das ist mir egal. Wenn du nur wüsstest, wie egal mir das ist.
– Genau, ich sage, was ich will.
– Sprich gefälligst leiser … Denk an die … Kinder …
Lise setzt nichts mehr hinzu. Ihr Blick richtet sich nicht auf die hübsche brünette Frau, die schweigsam neben ihrem Bruder steht.
Anna hat verstanden. Sie entfernt sich, sie mischt sich unter die kleine Menschenansammlung, wo sie niemanden kennt, wo niemand sie kennenlernen will. Kein entfernter Vetter grüßt sie, niemand ist neugierig zu erfahren, wer sie ist. Die Familie hält die Gefährtin des Sohnes auf Distanz, des schlechten Sohnes, der so früh aus dem Elternhaus geflohen ist und nie wieder zurückkam.
Anna hat einen Fehler gemacht. In diesem Moment der Trauer wollte sie ihren Platz an Yves’ Seite einnehmen, sie wollte schön sein, Yves keine Schande machen, und das war keineswegs unangebracht. Aber inmitten dieser feindseligen Indifferenz fühlt sie sich zu elegant, zu geschminkt, am liebsten wäre sie jetzt unsichtbar. Ganz in seinem Streit aufgehend hat Yves sie alleingelassen. Yves, der keine Familie mehr haben will, erinnert sie gerade durch seine Wut daran, dass er noch eine Familie hat, eine, zu der sie nicht gehört.
Es fängt an zu regnen. Über den Schieferdächern von Azelay koloriert im Osten ein Regenbogen den Himmel. Wenn David da wäre, ihr Bruder David, der der Religion anheimgefallen ist, dann würde er den Blick von diesem Prisma im Azur des Himmels abwenden und in Erinnerung an das Versprechen des
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