Kein Wort mehr ueber Liebe
Allmächtigen, den Menschen keine Sintflut mehr zu schicken, den Segen
Socher haBrith
sprechen. Er würde sie daran erinnern, dass es Rabbi Schimon ben Jochai höchstselbst war, gesegnet sei sein Name, der das Verbot ausgesprochen hatte, die Erscheinung des
Keschet
zu betrachten, des Regenbogens, der das Zeichen für den neuen Bund zwischen Gott und den Menschen ist, und dass er dies eigenhändig in den Randspalten des
Sohar
niedergeschrieben hatte. Aber Anna glaubt nicht mehr an Gott. Es ist ihr ziemlich gleich, ob die Thora irgendwo irgendwas gegen die Praxis des Wasserskis sagt oder ob die Gummierung von Postwertzeichen koscher ist. Man sagt von einem Juden, der den Glauben verliert, dass er »auf die Frage zugeht«, denn die Welt besteht dann nur noch aus Fragen. Anna betrachtet den Regenbogen, ohne dabei den Himmel oder seine Engel herauszufordern.
Sie betritt die gotische Kirche, ihre Absätze klackern allzu laut über die Steinplatten; sie betrachtet die Statuen der höchst katholischen Heiligen, die buntscheckigen Kirchenfenster, die vom Leiden Christi erzählen, wirft, mit dem Blick der Mutter, die sie ist, einen Blick auf die Büste der Jungfrau mit dem Jesuskind im Arm und sieht im Längsschiff diesen riesigen, aufs Kreuz genagelten Jesus,
Iesvs Nazarenvs Rex Ivdæorum
. Vor dem Altar liegen auf dem mit einem Tuch aus schwarzem Samt bedeckten Sarg die Liliensträuße und die aus Rosen geflochtenen Kränze. Um den Sarg herum sind weiße Kandelaber entzündet worden. Yves glaubt auch nicht mehr an Gott, aber es ist nicht derselbe Gott. Anna atmet den beißenden Geruch des Weihrauchs, den süßlichen Duft der Blumen, ihr Kopf dreht sich, sie setzt sich auf eine Bank im hinteren Teil des Schiffs, sie fröstelt, ihr ist plötzlich kalt, ganz kalt.
Sie fühlt sich fremd. Sie hätte nicht kommen sollen. Sie ist nicht von hier. Niemand wird für den Vater das Kaddisch rezitieren,
Jitgadal vejitkadasch sch’mej raba, Be’olma di’ verach chir’utech
, niemand wird sein Kleid zerreißen, bevor das Grab zugeschüttet wird, niemand wird einen Stein darauf legen, niemand wird eine Kerze im Schlafzimmer des Vaters anzünden. Nein, Anna ist nicht von hier, sie will nicht von hier sein, sie wird es niemals sein können. Sie will nicht zu Yves zurückkehren, will in seinen Armen keine Zuflucht suchen. Alles erscheint mit einem Mal so schwierig, fast unmöglich. Sie sind so verschieden, er, der Goj, sie, die Jüdin.
Anna hat Lust zu weinen. Sie würde gerne aufstehen, aus der Kirche hinausgehen. Ihre Beine versagen ihr den Dienst. Eine warme Männerhand greift nach der ihren, führt sie zuseinen Lippen. Anna drückt sich eng an Yves, der Schmerz ist zu groß, überbordend, sie weint in seinen Armen, erbebt unter lauter Schluchzern, sie möchte gerne aufhören, aber sie schafft es nicht, sie schafft es nicht.
THOMAS UND LOUISE
Thomas hätte nicht gedacht, dass es ihm überhaupt wehtun würde. Als Analytiker glaubte er, sich auf den Tod seines Vaters vorbereitet zu haben, so fest damit gerechnet zu haben, dass er sich ihn bereits unter der Erde vorstellen konnte. Aber er verspürt einen hartnäckigen Schmerz, in dem Trauer und Groll sich vermischen. Er hat diesen abwesenden Vater nicht geliebt, diesen Mann, den er stets nur beim Vornamen rief, Pierre, diesen Vater, der an seiner Vaterschaft so wenig interessiert war, dass Thomas glaubt, ihre Unterredungen an seinen zehn Fingern abzählen zu können. Als Jugendlicher wollte Thomas seinen Namen ändern, er hätte Derenne heißen wollen, wie seine Mutter. Später hatte seine Wut aufgehört zu schmerzen, sie hatte kein Gewicht mehr. Es kam sogar der Tag, an dem er keinen Groll mehr zu empfinden glaubte.
Und doch: Vor nunmehr zwanzig Jahren hatte »Pierre« ihm am Telefon gesagt: »Ich weiß, dass du leidest, ich weiß, dass du mir das übel nimmst …« Thomas hatte höhnisch aufgelacht. Da er es so laut getan hatte, dass sein Vater es hören konnte, wusste der blutjunge Analytiker, dass die Sache weit davon entfernt war, abgeschlossen zu sein, und er hattehinzugefügt: »Verzeih mir, Pierre. Du hast zweifellos Recht: Ich habe es dir übel genommen, und ich nehme es dir immer noch übel.«
Thomas weiß, während er in Richtung La Roche-sur-Yon fährt, dass er ihm begegnen wird. Wenn die Stoiker Recht haben damit, dass nichts zwischen den Menschen existiert, weder Liebe noch Zärtlichkeit noch Freundschaft, sondern, im Gegenteil, der Körper alles ist, wenn es stimmt,
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